Über Kunst lässt sich streiten. Zum Beispiel darüber, welche Hinterlassenschaften des Menschen, aber auch anderer Spezies dazugehören. Manchmal ist sogar die Urheberschaft strittig, oder zumindest die Methode: Bei Höhlenkunst in Ägypten wurde bereits diskutiert, ob die Umrisse, die wie menschliche Hände aussehen, nicht doch mithilfe von angelegten Krokodilfüßen entstanden. Und während Handabdrücke an Wänden als künstlerischer Ausdruck gelten, stellte eine Forschungsgruppe vor zwei Jahren die Frage, ob rund 200.000 Jahre alte Hand- und Fußabdrücke, die von spielenden Kindern herrühren könnten, ebenfalls als Kunst betrachtet werden sollten.

Zwei Fachleute von hinten vor der Höhlenwand, angeleuchtet sind im Hintergrund Linien zu erkennen, die Neandertaler in die Wand graviert haben.
Gravuren in einer französischen Höhle erregten die Aufmerksamkeit von Fachleuten (im Bild: Studienerstautor Jean-Claude Marquet von der Universität Tours und Trine Freiesleben von der Universität von Dänemark in Roskilde).
Kristina Thomsen, CC-BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

Klar dürfte mittlerweile sein, dass sich nicht nur moderne Menschen auf solche Weise verewigten, sondern auch die eng verwandten Neandertaler. Sie bemalten offenbar schon vor etwa 65.000 Jahren Höhlen im spanischen Ardales mit Pigmenten. Zu diesem Zeitpunkt war der moderne Mensch nach heutigem Wissen noch gar nicht in Europa angekommen, seine Besiedlung des Kontinents erfolgte womöglich in mehreren Wellen vor 54.000 bis 42.000 Jahren.

Neuer Altersrekord

Doch die Spuren der Neandertaler sind nicht nur malerisch, sie fertigten auch gravierte Wandbilder an, die auch als Petroglyphen bezeichnet werden. Vor neun Jahren veröffentlichte ein Forschungsteam die Entdeckung von Einkerbungen in einer Höhle in Gibraltar, die mindestens 39.000 Jahre alt sind. Dieser Altersrekord wurde nun gebrochen: Einer neuen Studie zufolge sind die ältesten Wandgravuren der Neandertaler mehr als 57.000 Jahre alt. Das berichtet das Forschungsteam um Jean-Claude Marquet von der Universität Tours in Frankreich im Fachjournal "Plos One".

Gravuren der Neandertaler im Detail, man erkennt Linien und punktförmige Spuren.
Die Darstellungen sind nicht gegenständlich, damit ist es schwieriger zu erahnen, welchen Zweck sie hatten.
Jean-Claude Marquet, CC-BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

Die Höhle von La Roche-Cotard befindet sich im französischen Loire-Tal. Vor allem an einer Wand konnten die Fachleute verschiedene Bereiche mit Gravuren ausmachen. Dabei handelt es sich um Fingerspuren, die wohl keine Menschen, Tiere oder Gegenstände darstellen, weshalb sie schwieriger zu interpretieren sind. 

Menschliche Schöpfer

Um überhaupt festzustellen, ob sie von Menschenhand geschaffen wurden, erstellte das Team 3D-Modelle der Markierungen. Dann verglichen sie sie mit anderen Beispielen. Den Analysen zufolge deuten die Formen, Abstände und die Anordnungen darauf hin, dass sie bewusst und mit Absicht von menschlichen Händen gemacht wurden.

Nur eben nicht durch moderne Menschen, sondern durch Neandertaler, das machte der Kontext der Funde deutlich. Die Fachleute datierten Ablagerungen in der Höhle und stellten fest, dass sie vor etwa 57.000 Jahren verschlossen wurde. Dies gilt also als Mindestalter der Gravuren. Zu dieser Zeit lebten nur Neandertaler in der Region.

Zudem wurden in und vor der Höhle bereits Steinwerkzeuge sowie eine eigentümliche Maske entdeckt, die der Artefaktkultur Moustérien zugeschrieben werden, die wiederum mit Neandertalern in Zusammenhang gebracht wird. Bei der Maske von La Roche-Cotard handelt es sich um ein schon 2000 beschriebenes Objekt von zehn Zentimetern Durchmesser, im Stein wurde ein Stück Knochen platziert und erinnert an ein menschliches oder tierisches Gesicht.

Was ist Dekoration?

Die Ausgrabungen an der Fundstätte wurden zunächst unterbrochen, vor 15 Jahren aber wieder aufgenommen. Nun konnten die eingeritzten Linien auf ein Alter von mehr als 57.000 Jahren datiert werden, die Schichten lassen sogar die Annahme zu, dass sie etwa 75.000 Jahre alt sind, zeigt sich das Autorenteam begeistert: "Das macht sie zu der ältesten dekorierten Höhle in Frankreich, wenn nicht sogar in Europa!"

Je nachdem, was man als "Dekoration" versteht, ließe sich über diese Aussage diskutieren. Immerhin wurden im Südwesten Frankreichs Gebilde aus Tropfsteinen entdeckt, die wohl ebenfalls von Neandertalern arrangiert wurden und nochmals 100.000 Jahre älter sind. Artefakte dürften sogar schon von anderen Spezies mit Einkerbungen verziert worden sein. Dafür sprechen Funde von fein gravierten Muschelschalen auf der Insel Java, die mehr als 400.000 Jahre alt sein dürften und Homo erectus zugeschrieben wurden. In jedem Fall machen diese Beispiele einmal mehr deutlich, dass nicht nur moderne Menschen komplexe und vielfältige Aktivitäten wie das Verzieren ihrer Umgebung ausübten. (Julia Sica, 22.6.2023)