Orcas schwimmen unter Wasser
Orcas fühlen sich in quasi allen Weltmeeren wohl. Vor allem rund um die Iberische Halbinsel kommen sie gehäuft mit Booten in Kontakt.
imago images/Nature Picture Library/Franco Banfi

In der Rangliste der Tiere, die derzeit für Furore sorgen, stehen Orcas weit oben: Öfter als sonst kommen sie Booten nahe oder stoßen sie sogar an. Das beeinträchtigte aktuell sogar das Segelrennen Ocean Race: Während der Schlussetappe wurde in der Gegend um Gibraltar mindestens ein Boot von einem Schwertwal "gerammt", wie die Organisatoren mitteilten. Auch vor den schottischen Shetlandinseln kam es vor kurzem erstmals zu solchen tierischen Störaktionen, berichtet der "Guardian" – ungewöhnlich weit im Norden.

An den Küsten der Iberischen Halbinsel, insbesondere in der Straße von Gibraltar, tummeln sich besonders viele Orcas. Über 50-mal hat eine Walschule dort in den vergangenen Monaten vor allem Segelboote gestört, vereinzelt sind auch Boote gesunken. Beim Vorfall während des Segelrennens wurden zwei Teams umkreist. "Das sind wunderschöne Tiere, aber es war auch gefährlich. Ein Orca hat unser Ruder attackiert", sagte einer der betroffenen Skipper, Jelmer van Beek.

Weil mitunter Yachten betroffen sind, wird in sozialen Medien gewitzelt, dass sich die Schwertwale dem Klassenkampf verschrieben haben. Weshalb es tatsächlich zu solchen Vorfällen kommt, dazu gibt es von Fachleuten verschiedene Vermutungen. "Wir wissen nicht genug über die Motivation der Schwertwale, um sicher zu sein", schreibt der Biologe Luke Rendell von der Universität St. Andrews in Schottland in einem Beitrag auf "The Conversation". Bisher sieht es nicht aus, als habe das Verhalten einen unmittelbaren evolutionären Vorteil, um etwa Nahrung zu beschaffen oder Sexualpartner zu finden. Falls es einen solchen Vorteil gibt, vermutet Rendell, dass es mit Neugierde zu tun hat: Diese "führt manchmal zu wichtigen Innovationen bei der Erschließung von Nahrungsquellen, die geteilt werden können".

Spiel oder schlechte Erfahrung?

Manche nehmen an, dass es sich um ein spielerisches Verhalten handeln könnte, zumal sich die Tiere nicht aggressiv zeigen. Stattdessen kommen sie Booten langsam näher und machen sich dann etwa daran, Ruder zu entfernen. Insbesondere Jungtiere probieren gern Neues aus und wiederholen dieses Verhalten, sagte der Biologe Alfredo López Fernandez von der spanischen Arbeitsgruppe Atlantische Orcas (GTOA) dem "Guardian".

Es sei aber auch möglich, dass "eines oder mehrere Individuen eine schlechte Erfahrung gemacht haben und versuchen, Boote zu stoppen, damit dies nicht wieder passiert". Ein solches Verhalten passe wiederum eher zu erwachsenen Tieren. Ein Orcaweibchen, das oft vor Gibraltar unterwegs ist, dürfte 2020 von einem Bootsruder verletzt worden sein, und die matriarchalen Schwertwale lernen Verhaltensweisen nicht selten von ihren Anführerinnen. Orcas, die mit Booten interagieren, werden von López Fernandez und seinem Team allesamt Gladis genannt: Ein nicht genutzter, alter Speziesname der "Killerwale" lautet Orca gladiator, heute werden sie offiziell als Orcinus orca bezeichnet.

Mögliche Modeerscheinung

Anscheinend kommen solche Vorfälle häufiger vor als sonst beobachtet. Auch über die Gründe dafür lässt sich bisher nur spekulieren. "Die Entstehung und Ausbreitung dieser Bootsangriffe passt sehr gut zu Merkmalen einer vorübergehenden Modeerscheinung, und es bleibt abzuwarten, wie lange sie anhält", meint Biologe Rendell. Beobachtet wurden bereits andere "Moden" wie das Herumtragen toter Lachse auf dem Kopf.

Der erfahrene Unterwasserfotograf Andrew Sutton äußerte die Vermutung, dass generell immer mehr Boote unterwegs sind und vermehrte "Angriffe" – beziehungsweise erlernte Defensivmechanismen oder Spiele – provozieren. Die Straße von Gibraltar werde von Marokko aus von vielen Booten mit Migrantinnen und Migranten an Bord überquert.

Einflussfaktor Mensch

Während unklar ist, ob die Schwertwale spielen, neugierig sind oder auf negative Erlebnisse der Vergangenheit reagieren, sollte der negative Einfluss von Menschen auf die "Killerwale" nicht vergessen werden, schreibt der Autor Philip Hoare, der sich für Walschutz engagiert. Mindestens 174 Orcas seien seit den 1960er-Jahren in Gefangenschaft und nach einem einsamen, reizarmen Leben gestorben.

In freier Wildbahn haben sie in Konkurrenz zu Fischerbooten mit zurückgehenden Nahrungsressourcen zu kämpfen, Umweltverschmutzung sorgt für weiteren Stress. Schiffsgeräusche erschweren die Kommunikation von Walen, weshalb der Meeresbiologe und Autor Karsten Brensing dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gegenüber vermutete, dass die Orcas um die Iberische Halbinsel während der Corona-Lockdowns endlich Ruhe erlebten und durch die Rückkehr des Lärms "sauer" wurden.

Einige Forderungen scheinen auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein: Derzeit beginnt eigentlich in Island die Walfangsaison, Fischereiministerin Svandís Svavarsdóttir kündigte allerdings an, die Jagd auf Finnwale bis Ende August auszusetzen. Damit reagiert sie auf eine neue Studie, die darauf hinweist, dass 40 Prozent der Tiere während der vergangenen Saison bei den angewandten Walfangmethoden stark litten und über bis zu zwei Stunden hinweg schmerzhaft starben. Damit stünde die Jagd im Widerspruch zum Tierschutzgesetz.

Weiterverfolgt wird sicherlich die Ausbreitung des Verhaltens in andere Walschulen, zumal es nun erstmals vor schottischen Küsten beobachtet wurde. López Fernandez zufolge dürften auch hier Menschen das Verhalten der Tiere beeinflussen, selbst indirekt. Dazu gehören neben vermehrtem Schiffsverkehr, Lärm und eingeschränkten Nahrungsquellen auch die Erwärmung der Meere durch die Klimakrise, die zumindest manche Arten veranlasst, kühlere Gebiete aufzusuchen und sich damit weiter in Richtung der Pole zu bewegen. (sic, 23.6.2023)