Urlaubslektüre
Tipps für die beste Urlaubslektüre.
STANDARD

EMPATHIE

Einer professionellen Krankenpflegerin geht buchstäblich die Luft aus: Pflegekräfte werden, trotz maximaler Involvierung, von der Gesellschaft wenig wertgeschätzt und geringfügig bezahlt. Birgit Birnbachers kleiner Roman Wovon wir leben (192 Seiten, Zsolnay) durchmisst auf erzählerischen Samtpfoten Krisenzonen der Arbeitswelt. Birnbachers Beitrag zur Heimatliteratur stimmt nachdenklich: Er protokolliert sanft unser aller Entwurzelung. Hier geht's zur ausführlichen Rezension.

SCHULIRRSINN

Es sind zwar Schulferien, aber die Einblicke in ein Wiener Elitegymnasium, die Tonio Schachinger in Echtzeitalter (368 Seiten, Rowohlt) gibt, sind zu gut, um sie deshalb zu boykottieren. Voll origineller Figuren und mit Schmackes formuliert, stemmt Schachinger mit der Langzeitbeobachtung des Burschen Till schlaglichthaft einen Entwicklungsroman, eine Chronik des Jungseins und der Alpenrepublik in den 2010ern, eine Einführung in die Faszination Games. Wow! Hier geht's zur ausführlichen Rezension.

Virginie Despentes
Virginie Despentes neuer Roman „Liebes Arschloch“ ist versöhnlich und fabelhaft geworden.
©Jean-Francois PAGA/opale.photo

STREITFALL

Virginie Despentes, Expertin für menschliche Abgründe, gibt sich in ihrem fabelhaften neuen Roman versöhnlich. Zwar heißt er Liebes Arschloch (336 Seiten, KiWi) – der Ton wird aber sanfter, die virtuell raufenden Figuren Rebecca (eine mit dem Alter weniger gefragte Schauspielerin) und Oscar (ein Autor mit MeToo-Skandal) zu Freunden. Die Gemengelage ist diskurstechnisch aktuell (Gender, Hass im Netz), das Zwischenmenschliche ohne Kitsch rührend. Hier geht's zur ausführlichen Rezension.

SCHWURBLER

Peter Bender, die Hauptfigur in Clemens J. Setz’ Roman Monde vor der Landung (528 Seiten, Suhrkamp) hat wirklich gelebt. Der Autor mit dem Faible fürs Abseitige hat dieses Leben recherchiert und fiktionalisiert. Zentral: die Hohlwelttheorie, also dass wir im Innern der Weltkugel leben. Setz porträtiert einen, zu dem man heute "Schwurbler" sagen würde und der darüber die tatsächlichen Bedrohungen in der Welt übersieht. Viel Raum für versponnene Ideen! Hier geht's zum Interview mit dem Autor.

KINO, KINO

Esther Kinsky denkt über das Kino nach, und zwar von Südostungarn aus, wo sie einige Jahre selbst lebte und einem längst geschlossenen Kino in einem kleinen Ort an der rumänischen Grenze Leben einhauchte. Im großartigen Band Weiter Sehen (200 Seiten, Suhrkamp) sinniert sie über die Idee des Kinos an sich, seine Klassenlosigkeit und europäischen Zentren, über die Begabung des Sehens. Ein traumhaftes, unprätentiöses, kluges Buch zum Verschlingen.

Michael Ostrowski
Michael Ostrowski legte einen überzeugenden Debütroman vor.
Heribert CORN

STRIZZI

Vor einem Jahr feierte Michael Ostrowskis Film Der Onkel Erfolge. Das gleichnamige Buch (320 Seiten, Rowohlt) ist mehr als nur ein Abklatsch: Der Schauspieler erzählt viel umfangreicher von dem Taugenichts Mike Bittini, der die Welt seines erfolgreichen, aber im Koma liegenden Anwalt-Bruders auf den Kopf stellt, indem er in dessen Villa zieht, dessen Kinder für sich einnimmt, dessen Frau gegen sich aufbringt. Ein vergnügliches und literarisch starkes Debüt. Hier geht's zum Videointerview mit dem Autor.

ABGRÜNDIG

Im Vorjahr hat der deutsche Autor Heinz Strunk in seinem Roman Ein Sommer in Niendorf über die unabsehbaren Folgen einer sommerlichen Auszeit resümiert. Heuer bietet er in der Kurzgeschichtensammlung Der gelbe Elefant (206 Seiten, Rowohlt) im kleineren Format fantastische, bitterböse Geschichten über seltsame Gestalten des Alltags und nimmt scheinbar harmlose Wahrnehmungen zum Ausgangspunkt grandioser Betrachtungen.

Olga Tokarczuk
Olga Tokarczuk erzählt von einer queeren Hauptfigur.
imago images/Hartenfelser

GRUSEL

Statt Sommer ist es Herbst, statt Sonne gibt es Nebel, trotzdem ist Empusion (384 Seiten, Kampa) von Olga Tokarczuk herrliche Urlaubslektüre. Denn sie zieht von Anfang an in ihren Bann: Elegant formuliert steckt die Nobelpreisträgerin kuriose Charaktere, Misogynie um 1900, die Lächerlichkeit des Patriarchats, eine Gruselgeschichte und Queerness ineinander. Im Setting prächtig historisch und verschroben, in der Perspektive gar dem Heute voraus. Hier geht's zur ausführlichen Rezension.

KOKS AM POOL

Für Menschen mit trainierter Armmuskulatur empfiehlt sich der neue Ziegel von Bret Easton Ellis. Der von American Psycho bekannte Autor kehrt in The Shards (736 Seiten, Kiepenheuer & Witsch) zu seinen Ursprüngen zurück. Im Los Angeles der 1980er-Jahre bringt ein Serienmörder die zugekokst an Pools liegende Jeunesse dorée "bestialisch" um. Paranoia zieht ein. Ellis beschreibt dazu lässig langweiligen Sex und Smalltalk, coole Musik und Popper-Mode. Hier geht's zur ausführlichen Rezension.

DRIFTEN

Eine Starpianistin vermasselt im Wiener Musikverein ein Rachmaninoff-Konzert und begibt sich dann quer durch Europa auf die Suche nach Antworten und neuen Lebenspfaden. Augustblau (171 Seiten, Aki-Verlag) von Deborah Levy ist ein Roman über das Neusortieren des eigenen Ich, das Abwarten, das Weitermachen. Erzählt zwischen Griechenland, Sardinien, England und Paris, wo sich in der Banalität der Pandemie ein magisches Leben behauptet.

(Die Kulturredaktion, 25.6.2023)