Unklare Lage in Rostow-am-Don Samstagfrüh. Russische Militärfahrzeuge stehen in den Straßen, nachdem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin in einem auf Telegram veröffentlichten Video behauptete, er kontrolliere mit seiner Söldnertruppe Wagner alle Militäreinrichtungen der Stadt.
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Jo Angerer aus Moskau

Eigentlich ein ganz normaler Samstag-Morgen in Moskau. Die Menschen sind beim Einkaufen, die Supermärkte sind voll. Eigentlich. Denn sehr viel Polizei ist auf der Straße, vor wichtigen Gebäuden, etwa dem russischen Parlament, sind gepanzerte Fahrzeuge aufgezogen. Es würden zusätzliche Straßenkontrollen eingeführt, sagte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin. Zudem wurde das Anti-Terror-Regime ausgerufen.

Das bedeutet: Eine ganze Reihe von Maßnahmen und Beschränkungen können in Kraft treten. Dazu gehören Personenkontrollen, die Überprüfung von Personalien, die Überwachung von Telefongesprächen. Auch das Internet und die Kommunikation kann eingeschränkt werden. Die Behörden können Privatfahrzeuge beschlagnahmen und vorrübergehend Menschen evakuieren. Auch der Verkehr kann eingeschränkt werden. Ebenso kann der Verkauf von Waffen und Alkohol kann untersagt werden.

Militäreinrichtungen der Stadt Rostow-am-Don

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin kontrolliere nach eigenen Angaben mit seiner Söldnertruppe alle Militäreinrichtungen der Stadt Rostow-am-Don. Kämpfer der Söldnergruppe Wagner haben Berichten zufolge auch alle militärischen Einrichtungen der Stadt Woronesch 500 Kilometer südlich von Moskau unter ihre Kontrolle gebracht. Prigoschin erklärte, seine Wagner-Truppe werde auf Moskau marschieren, wenn nicht Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow zu ihm kämen.

Seine Söldner würden "alles zerstören", was sich ihnen in den Weg stelle, so Prigoschin. Er warf dem russischen Generalstabschef Waleri Gerassimow vor, Bombenangriffe auf seine Truppen angeordnet zu haben, selbst wenn diese inmitten von zivilen Fahrzeugen unterwegs seien. Prigoschins Truppen hätten in der Zwischenzeit einen russischen Armeehubschrauber abgeschossen, so der Wagner-Chef in einer Audiobotschaft, veröffentlicht letzte Nacht. Das russische Verteidigungsministerium dementierte dies.

Der Gouverneur von Rostow-am-Don hat die Bevölkerung aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Die Behörden würden alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Einwohner zu gewährleisten, so Wassili Golubew auf seinem Telegram-Kanal. Golubew teilt darin nicht mit, ob Prigoschins Kämpfer schon in Rostow angekommen seien oder nicht.

Machtkampf beenden

Inzwischen stellte sich der Armeegeneral Sergei Surowikin auf die Seite des Machtapparats in Moskau. Der Vizechef des russischen Generalstabs rief Prigoschin in einer Videobotschaft dazu auf, den Machtkampf zu beenden. "Der Gegner wartet nur darauf, bis sich bei uns die innenpolitische Lage zuspitzt", sagte Surowikin in einer am Freitagabend verbreiteten Videobotschaft. " Probleme seien friedlich zu lösen.“ Surowikin gilt eigentlich als Verbündeter Prigoschins. Seine Söldnerarmee würde die Kampfeinsätze in der Ukraine in Abstimmung mit Surowikin festlegen Dieser sei klug, erfahren und stehe für ein hohes Maß an Effektivität und Erfolg, so Prigoschin in einer früheren Erklärung.

Zugespitzt hatte sich die Lage, nachdem sich Wagner-Soldaten weigerten sich dem Befehl des russischen Verteidigungsministeriums zu unterstellen. Schoigu könne über das Ministerium und die regulären Soldaten bestimmen, verkündete Prigoschin vor einigen Tagen auf seinem Telegram-Kanal. Der Minister sei aber schon bisher nicht in der Lage, seine eigenen Truppen zu führen. Wagner werde daher keine Verträge mit Schoigu unterzeichnen. Prigoschin betonte zugleich, dass er sich Präsident Wladimir Putin als Oberbefehlshaber und den Interessen Russlands unterordne.

Eskaliert war die Situation als Prigoschin erklärte, das Verteidigungsministerium versuche, Putin und die Öffentlichkeit über die Kriegsgründe zu täuschen. Dass von der Ukraine eine Aggression ausgehe und diese gemeinsam mit der Nato Russland angreifen solle, sei eine Lügengeschichte. "Die Spezialoperation wurde aus anderen Gründen begonnen", sagte Prigoschin. "Der Krieg war notwendig, damit Schoigu Marschall werden und eine zweite Heldenmedaille bekommen kann.“ Prigoschins Fazit: "Der Krieg war nicht notwendig, um die Ukraine zu demilitarisieren oder denazifizieren."

"Dolchstoß in den Rücken"

Der russische Präsident Wladimir Putin wirkte in einer Fernsehansprache sichtlich verärgert. Er sprach von Verrat und einem "Dolchstoß in den Rücken".  Wer an der Meuterei teilgenommen habe, werde bestraft, jeder, der die Waffen gegen die Armee erhoben habe, sei ein Verräter. "Wir werden siegen und stärker werden", sagte Putin am Samstag und rief zur "Neutralisierung" der Drahtzieher auf.

Der Inlandsgeheimdienst FSB eröffnete inzwischen ein Strafverfahren gegen Prigoschin wegen des Vorwurfs, er habe zum bewaffneten Aufstand aufgerufen. Der FSB forderte die Wagner-Kämpfer auf, ihren Chef gefangen zu nehmen. Präsident Wladimir Putin sei über die Entwicklungen unterrichtet, sagte dessen Sprecher Dmitri Peskow. Notwendige Maßnahmen würden ergriffen. Russlands Generalstaatsanwaltschaft hält die Einleitung des Verfahrens gegen Söldnerchef Jewgeni Prigoschin für gerechtfertigt. "Für so ein Verbrechen ist ein Freiheitsentzug zwischen zwölf und 20 Jahren als Strafe vorgesehen", heißt es in einer Erklärung der Behörde vom Freitagabend.

Schwerste innenpolitische Krise

In der russischen Gesellschaft hat Prigoschin in jüngster Zeit gepunktet. In einer aktuellen Umfrage, veröffentlicht in der Zeitung RBK daily, steht er derzeit auf Platz fünf der Persönlichkeiten, denen die Russen vertrauen. Nur zwei Plätze hinter Verteidigungsminister Shoigu. Im Winter war Prigoschin noch auf Rang 151.

Der jetzige Machtkampf zwischen ihm und der Staatsführung in Moskau ist die schwerste innenpolitische Krise in Russland seit Beginn der Kämpfe in der Ukraine. Und Prigoschin will weitermachen. Er werde das "Böse" in der Militärführung stoppen. Diejenigen, die die Leben Zehntausender russischer Soldaten zerstört hätten, würden bestraft. "Wir sind 25.000 und wir werden herauskriegen, warum das Land ins Chaos gestürzt wurde", sagte der Wagner-Chef. "Das ist kein Militärputsch. Das ist ein Marsch für Gerechtigkeit." (Jo Angerer, 24.6.2023)