Rostow am Don
Eine Frau passiert in Rostow am Don am Gehsteig mehrere Kämpfer der Wagner-Gruppe.
APA/AFP/DENIS ROMANOV

Russland kennt seit Jahrhunderten fast nur autoritäre Systeme. Zu großen politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen in Russland kommt es historisch nach schiefgelaufenen Kriegen. Das beginnt mit der Niederlage im Krimkrieg 1856 gegen England, Frankreich und die Türkei. Anschließend wurde von Zar Alexander II. die Leibeigenschaft aufgehoben. Nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg von 1905 kam es zu einer Revolution und halbherzigen Reformversuchen. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg 1917 bewirkte die Februarrevolution mit der Abdankung des Zaren, danach Lenins Oktoberrevolution (eigentlich ein Putsch) und kommunistische Diktatur. Breschnews gescheiterte Invasion von Afghanistan 1979 brachte den Reformer Gorbatschow an die Macht, nach dem fehlgeschlagenen Putsch von 1991 der sowjetischen alten Garde fiel die Sowjetunion auseinander. Damals wurde die Ukraine unabhängig.

Jewgenij Prigoschin auf einem Video-Screenshot.
Jewgenij Prigoschin auf einem Video-Screenshot.
APA/AFP/TELEGRAM/@concordgroup_o

Der schlechte Verlauf des willkürlichen Kriegs von Putin gegen die Ukraine löste nun den Putsch des Söldnerführers Jewgenij Prigoschin mit seiner "Wagner"-Truppe aus. Vordergründig gerichtet gegen das russische Militärestablishment, mit dem Prigoschin seit Monaten in wüster Auseinandersetzung lebt, in Wirklichkeit aber gegen Putin, ist dieser Putschversuch zunächst erstaunlich erfolgreich. Prigoschin hat ohne wirklichen Widerstand die Großstadt Rostow eingenommen, den Sitz des Hauptquartiers des südlichen Militärbezirks Russlands. Seine Militärkolonne ist sogar am Samstagnachmittag auf dem Weg nach Moskau gewesen, nur noch 400 km entfernt. Die Industriegroßstadt Woronesch ist offenbar gleichfalls ohne Widerstand gefallen.

Diktator im Überlebenskampf

Es scheint immer noch unwahrscheinlich, aber nicht ganz unmöglich, dass Prigoschin Erfolg hat. Aber selbst wenn die russische Militärmacht seine 25.000 Söldner massiv angreift und den Aufstand niederschlägt, hat die Position Putins wohl eine entscheidende Schwächung erfahren. Er ist ein rücksichtsloser "starker Mann". Er hat sofort nach seinem Amtsantritt 2000 den Sezessionsversuch der Teilrepublik Tschetschenien mit ungeheurer Brutalität niedergeschlagen. Er hat 2008 Krieg gegen Georgien geführt und ein Stück abgetrennt. Er annektierte 2014 die Krim und etablierte im ukrainischen Donbass ein Sezessionsregime. Aber mit der Ukraine hat er sich schwer verkalkuliert. Und nun fordert ihn ein früherer Verbündeter – Prigoschin hat die Trollfabrik in St.Petersburg finanziert – aufs massivste heraus. Der Nimbus des Mannes, der alles unter Kontrolle hat, ist auf alle Fälle dahin. Und wenn in einem derartigen Riesenland alles auf einen einzigen Mann konzentriert ist, dann läuft alles aus dem Ruder, wenn etwas einmal derart schief geht. Putin ist ein russischer Imperialist, der zumindest Osteuropa wieder unter seine Kontrolle bringen und die Nato vom Kontinent verjagen wollte (was manche immer noch nicht begreifen wollen). Wie alle diese aggressiven Despoten greift er zur Täter-Opfer-Umkehr. In seiner Reaktionsrede nach Prigoschins Herausforderung beschwor er wieder das "tausendjährige Russland", das vom diabolischen Westen zerstört werden soll.

Wenn ein Söldnerführer in einem verrückten Krieg die Macht an sich reißen will, wenn schon der Bürgerkrieg droht, dann ist in der Tat "jeder interne Aufruhr eine tödliche Bedrohung für unsere Staatlichkeit, für uns als Nation. Das ist ein Schlag für Russland, für unser Volk". Das hat Putin, der Verursacher dieser Katastrophe, in seiner Rede richtig erkannt. Aber den Staat, den er wieder mächtig machen wollte, hat er selbst gefährdet.

Prigoschin könnte sich eine Zeitlang als warlord im Süden halten. Andere warlords – der Tschetschene Kadyrow - , warten auf eine Chance. Vor allem: Wie will Putin den Krieg noch gewinnen ? Ein Diktator im Überlebenskampf mit Atomwaffen ist sehr gefährlich. Ein Prigoschin mit Atomwaffen noch gefährlicher. Kräfte im System, die dem Wahnsinn ein Ende bereiten können, sind vielleicht da, aber nicht sichtbar. (Hans Rauscher, 24.6.2023)