Die Natur kennt in der Regel keine Gnade, wenn es ums Fressen und Gefressenwerden geht. Auch die süßeste Hauskatze ist in Wirklichkeit ein Raubtier, das ohne Skrupel tötet, wenn es um die Jagd auf kleinere Tiere geht.

Das Hinterfragen des Tötens und Verspeisens von Lebewesen ist eine charakteristische Eigenschaft des Menschen, wobei das Essen von Tieren meist als legitim gilt. Die christliche Lehre betont deshalb den Unterschied zwischen beseelten Menschen und unbeseelten Tieren (die gegessen werden dürfen) stark.

Ohne religiöses Wertefundament stellt sich die Frage schwieriger dar. Auch Tiere können Leid empfinden, und aktuelle Forschungsergebnisse zeichnen ein zunehmend diffuses Bild, wenn es um die Abgrenzung von Mensch und Tier in Bezug auf Intelligenz und Empfindungen geht.

Schienbeinknochen im Nationalmuseum von Nairobi
Der Schienbeinknochen lag im Nationalmuseum von Nairobi. Bei der Suche nach Bissspuren von Tieren stieß die Forscherin Briana Pobiner auf die Kratzer.
Jennifer Clark

In der Frühzeit der Entwicklung des Menschen war die Situation noch komplizierter. Wie man heute weiß, lebten über lange Zeiträume verschiedene Menschenarten parallel nebeneinander, tauschten sich aus und zeugten auch gemeinsame Nachkommen. Ob sie einander auch als Nahrung betrachteten, war aber unklar.

Darüber könnte nun ein neuer Knochenfund Aufschluss geben. In einer aktuellen Studie im Fachjournal "Scientific Reports" berichtet ein Team um die Paläoanthropologin Briana Pobiner vom Smithsonian National Museum of Natural History von verdächtigen Kratzspuren an einem 1,45 Millionen Jahre alten Schienbeinknochen eines Frühmenschen, der im Norden Kenias gefunden wurde. Sie dürften von Steinwerkzeugen stammen.

Bissspuren und Kratzer

Pobiner stieß auf die Spuren, als sie im Nationalmuseum von Nairobi in Kenia verschiedene Funde mit einer Lupe untersuchte. Sie wollte eigentlich herausfinden, welche Raubtiere Jagd auf Frühmenschen machten, und suchte nach Bissspuren. Doch einige der Spuren auf dem Schienbein sahen nicht wie Bisse aus.

Um festzustellen, worum es sich handelt, sandte die Forscherin ihrem Kollegen Michael Pante von der Colorado State University Abgüsse der Schäden und bat ihn, sie zu analysieren, ohne ihn über Details zum Fund zu informieren. So wollte sie sichergehen, dass er sich ein unbefangenes Urteil bildet. Pante fertigte 3D-Scans der Abgüsse an und verglich sie mit einer Datenbank von 898 anderen Spuren, die aus bei Laborversuchen hergestellt worden waren und die Bisse oder Schlachtspuren imitierten.

Detailaufnahme der elf Kratzspuren. Neun davon wurden auf Steinwerkzeuge zurückgeführt.
Jennifer Clark

Die Ergebnisse waren unterschiedlich. Nicht alle Spuren deuten auf menschliche Bearbeitung hin. Einige dürften vom Biss eines großen Tiers stammen, am wahrscheinlichsten von einem Löwen. Doch bei neun der elf Spuren ermittelte Pante Verwandte von Menschen als Urheber.

Doch wurde der Besitzer oder die Besitzerin des Knochens tatsächlich aufgegessen? Dass Frühmenschen diese Kerben im Zuge von unbekannten Ritualen hinterließen, lässt sich laut Pobiner nicht völlig ausschließen. Doch es gibt verschiedene Anzeichen, die dagegen sprechen. "Diese Schnittspuren sehen sehr ähnlich aus wie die, die ich bei Tierfossilien gesehen habe, die für den Verzehr verarbeitet wurden", sagt Pobiner. "Es scheint sehr wahrscheinlich, dass das Fleisch dieses Beins gegessen wurde, und zwar zur Ernährung und nicht für ein Ritual." Dafür spricht unter anderem, dass die Schnitte sich in der Nähe der Sehnenansätze der Wadenmuskeln befinden. Hier würde man schneiden, um Fleisch vom Knochen zu lösen.

Keine Rückschlüsse auf die Arten

Wer hier wen verspeist hat, ist nicht geklärt. Die Zuordnung des Knochens ist schwierig und änderte sich im Lauf seiner Erforschung mehrmals. Ursprünglich ordnete man ihn als Knochen eines Australopithecus boisei ein, 1990 ging man von einem Homo erectus aus. Heute sind sich Fachleute einig, dass nicht genügend Daten für eine Einordnung vorhanden sind. Auch die Art des Steinwerkzeugs lässt keine genauen Rückschlüsse auf die für das Schneiden verantwortliche Menschenart zu. Es könnte sich also um Kannibalismus gehandelt haben. Von Neandertalern ist Kannibalismus bekannt, allerdings vor etwa 100.000 Jahren.

Drei verschiedene Tierknochen mit regelmäßigen Einkerbungen.
Detailaufnahmen von drei verschiedenen Tierknochen, die aus der Region und Zeitperiode stammen, in die auch der Schienbeinknochen einzuordnen ist.
Briana Pobiner

"Es gibt zahlreiche andere Beispiele dafür, dass sich Arten aus dem Stammbaum des Menschen gegenseitig als Nahrung verzehren, aber dieses Fossil deutet darauf hin, dass sich die Verwandten unserer Spezies schon vor langer Zeit gegenseitig gegessen haben, um zu überleben", sagt Pobiner.

Ob es sich bei den nun gefundenen Spuren auf dem Schienbein um das älteste Zeugnis von Verwandten des Menschen handelt, die einander aßen, ist noch nicht eindeutig geklärt. Es gibt einen weiteren Fund aus Südafrika, der Spuren von Steinwerkzeugen aufweist, die als Schlachtung interpretiert wurden. Es handelt sich um einen Schädel, der zwischen 1,5 und 2,6 Millionen Jahre alt ist. Doch der Ursprung der Spuren, die sich an der Wange befinden, ist umstritten. Pobiner regt eine genauere Untersuchung des Schädels an.

Bissspuren als Rätsel

Unklar ist bisher auch die Bedeutung der mutmaßlichen Katzenbisse. Da Schnitt- und Bissspuren an unterschiedlichen Stellen zu finden sind, lässt sich nicht eruieren, welche zuerst da waren. Es wäre also denkbar, dass sich eine Großkatze über die Knochen hermachte, nachdem Frühmenschen das Fleisch entfernt hatten. Doch womöglich war es die Katze, die den Inhaber des Knochens tötete, während die hungrigen Frühmenschen erst danach aktiv wurden.

Für Pobiner ist der Fund ein Glücksfall, wie er durchaus öfter vorkommen könnte. "Man kann erstaunliche Entdeckungen machen, wenn man in Museumssammlungen geht und sich Fossilien ein zweites Mal ansieht", sagt Pobiner. "Nicht jeder sieht alles beim ersten Mal. Es braucht eine Gemeinschaft von Forschenden, die sich mit verschiedenen Fragen und Techniken einbringen, um unser Wissen über die Welt zu erweitern."

Ob es sich nun um Kannibalismus oder um verschiedene Frühmenschenarten handelte, frühe Verwandte des Menschen dürften einander als Nahrung nicht verschmäht haben. Doch vielleicht war das unglückliche Individuum zu diesem Zeitpunkt schon tot, getötet von einem Löwen. (Reinhard Kleindl, 27.6.2023)