Die Neunjährige Sofía Otero bekam als erstes Kind von der Jury den Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle
© Gariza Films, Inicia Films

Ist es ein Mädchen oder ein Bub? Diese Frage wird meist recht schnell durch den Geburtsnamen beantwortet. Doch was, wenn ein Kind diesen Namen nicht mehr will? Wenn die Geschlechtsidentität, die damit verbunden ist, nicht passt? Für ihr Spielfilmdebüt 20.000 Especies de Abejas hat sich die Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ein einigermaßen heißes Thema ausgesucht: die Transidentität eines Kindes. Und sie verhandelt es, aller politischen Aufregung zum Trotz, ruhig und mit viel Solidarität mit ihrer Hauptfigur.

Die heißt Lucía, zumindest wenn es nach ihr geht. Alle anderen nennen sie bei ihrem Spitznamen Cocó. Den neuen Namen wird sie sich erst später in der Kirche des baskischen Orts aussuchen, des Geburtsorts ihrer Mutter, in der ihre Patchworkfamilie zu Besuch ist. Drei Generationen von Frauen treffen hier aufeinander. Am Tag ihrer Ankunft findet ein Feuerfest statt, und die Anwesenden übergeben Zettel mit ihren Wünschen an die Flammen. Was Cocó notiert, sehen wir nicht. Doch der Film zeigt in kleinen Gesten, wie sie sich gegen ihren Geburtsnamen Aitor – ein Gott im Gründungsmythos des Baskenlandes – und die Identität als Bub wehrt. Die Traditionen sind spürbar. Dazu gehört aber auch die Imkerei, die der Film als emanzipatorische Metapher im Titel trägt.

20.000 Arten von Bienen | Trailer (OmU)
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Silberbär und Kulturkampf

Estibaliz Urresola Solaguren erzählt mit viel Sensibilität die Geschichte eines transidenten Kindes, aber auch die der Mutter und der Familie drumherum. Wer geht wie mit der Veränderung um? Wer steht zum Kind, wem fällt es schwer, das Ungewohnte anzunehmen? Der Film feierte im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb seine Premiere. Und die neunjährige Darstellerin Sofía Otero bekam als erstes Kind von der Jury den Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle – ein Preis, der seit zwei Jahren übrigens geschlechtsneutral verliehen wird.

Provokation und Klischees sucht man in 20.000 Especies de Abejas vergeblich. Als individuelle Geschichte regt das Thema weit weniger auf als in den Boulevard- und Feuilleton-Schlagzeilen. Das Aufbrechen der Zweigeschlechtlichkeit macht immer noch vielen Angst, selbst – oder gerade – wenn es nicht die eigene Identität oder die einer Person des direkten sozialen Umfelds betrifft. Seit einiger Zeit wird Transidentität auch hierzulande als effektives Kulturkampfthema entdeckt, vor allem von rechter Seite. Politik und Medizin üben ihre Definitionsmacht verschieden aus.

Deutschland diskutiert heftig über ein Selbstbestimmungsgesetz auf Basis individueller Grundrechte, und in Wien hielt kürzlich die Anti-Trans-Aktivistin Posie Parker eine Demonstration ab. In den USA ist das Thema vor allem für die Republikaner nach der Niederlage in puncto Homosexuellenrechte ein neues Mittel zur Mobilisierung ihrer Wähler. Transkinder wie Lucía spielen in dieser politischen Erzählung den Gegenpart zu Erwachsenen. Sie werden zu unschuldigen Opfern einer Ideologie erklärt, während Transfrauen als Bild der Bedrohung herhalten müssen.

Transidentität im Kino

Diese Stereotype lassen sich auch im Kino wiederfinden. Transvestiten waren beliebte Bösewichte, etwa die Mörder in Jonathan Demmes The Silence of the Lambs oder in Brian De Palmas Dressed to Kill. 1999 wurde dann im Teenagerdrama Boys Don’t Cry die andere Perspektive eingenommen. Hilary Swank erhielt für ihre Darstellung von Brandon Teena den Oscar. Die reale Transgeschichte The Danish Girl bringt 16 Jahre später auch Cis-Hauptdarsteller Eddie Redmayne den Oscar ein. Sogar hinter dem 1970er-Bankraub-Klassiker Dog Day Afternoon mit Al Pacino steht eine reale Transthematik. Filme wie Hedwig and the Angry Inch oder Transamerica verhandeln das Thema leichter, während es Sally Potter in Orlando auf eine fließende, mythische Ebene hebt.

Orlando Trailer 1993
Video Detective

Das Kino vollzieht hier die gesellschaftliche Entwicklung nach. Immer mehr Menschen mit Transgenderidentität finden ihren Platz im Mainstream der Gesellschaft und auf der großen Kinoleinwand. In den letzten Jahren entdecken auch Arthouse-Regisseurinnen und Regisseure Transidentität für ihre Spielfilm-Storys, etwa Céline Sciamma (Tomboy), Lukas Dhont (Girl) oder zuletzt Hüseyin Tabak in seinem Familienfilm Oskars Kleid. Mittlerweile spielen auch Transdarstellende die entsprechenden Rollen, wie etwa Kitana Kiki Rodriguez in Tangerine oder Trace Lysette in Monica. Demnächst sehen wir die Österreicherin Thea Ehre im Polizeithriller Bis ans Ende der Nacht (auch sie gewann auf der Berlinale).

Diese Präsenz ist wichtig, denn so kann Transpersonen nicht länger die Identität abgesprochen, sie können nicht mehr als Ideologie und Fiktion gebrandmarkt werden. Viele von ihnen könnten wohl eine Coming-of-Age-Geschichte erzählen, wie die von Lucía in 20.000 Especies de Abejas. Und genau darum geht es auch abseits der Leinwand: die eigene Geschichte zu schreiben. (Marian Wilhelm, 27.6.2023) Ab Freitag im Kino