Wie kann es sein, dass in Tirol nur 2,8 Prozent der Kinder in Pflichtschulen einen sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) haben, in Salzburg aber fast zweieinhalb Mal so viele, nämlich 6,9 Prozent, als besonders förderbedürftig gelten? Oder in Wien und Oberösterreich mit 5,8 Prozent auch mehr als doppelt so viele und klar über dem Österreich-Schnitt von 5,1 Prozent liegend, wie ihn die Statistik Austria für das Schuljahr 2021/22 angibt? Auch im Bildungsministerium fragt man sich das und hat zur SPF-Vergabepraxis – also der Zuerkennung eines "sonderpädagogischen Förderbedarfs" (SPF) – eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse bis Jahresende vorliegen sollen.

Im Bild sind lesende Kinder zu sehen. Eine Leseschwäche gilt übrigens nicht als Grund für die Zuerkennung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs.
Die Zahl der Kinder, die als "sonderpädagogisch förderbedürftig" geführt werden, ist je nach Bundesland auffällig unterschiedlich hoch.
APA/dpa/Sebastian Gollnow

Eine Frage des Bewusstseins

Einige Hinweise lassen sich schon jetzt in einer Studie der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule – Edith Stein in Stams finden. Darin haben die zwei Hochschullehrerinnen und Pädagoginnen Eva Salvador und Simone Stefan die Tiroler Praxis der SPF-Zuerkennung analysiert. Als wichtigen Grund für den im Österreich-Vergleich sehr niedrigen SPF-Anteil in Tirol vermutet Studienautorin Salvador im STANDARD-Gespräch zuallererst einen sehr bewussten Umgang mit dem Thema. Es gebe "ein sehr großes Bemühen der Verantwortlichen, möglichst genau hinzuschauen und nur dann einen sonderpädagogischen Bedarf festzustellen, wenn wirklich Behinderungen vorliegen". Generell hätten in Tirol seit längerem "Personen, denen Inklusion ein Anliegen ist, Stellen in der Bildungsdirektion, im Fachbereich Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik sowie in den Schulleitungen inne, in denen sie Prozesse steuern und entsprechende Haltungen vermitteln können".

Allerdings gibt es auch innerhalb der vergleichsweise kleinen SPF-Gruppe in Tirol eine Auffälligkeit, die Kinder mit anderen Erstsprachen als Deutsch betrifft: "Die Hauptaussage unserer Studie ist, dass bei Kindern mit anderen Erstsprachen viel Präventionsarbeit und ein besonders sensibles förderdiagnostisches Vorgehen notwendig sind, da ansonsten die Gefahr besteht, dass ihnen aufgrund sprachlicher Barrieren zu schnell ein SPF zugesprochen wird", sagt Salvador. Der Titel der Studie lautet nicht zufällig "SPF – eine Frage der Herkunft?". Denn Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind – nicht nur in Tirol – in der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit SPF deutlich überrepräsentiert.

Besonders viele Kinder mit Migrationshintergrund betroffen

Im Schuljahr 2019/20 betrug der Anteil der Schüler aus Zuwandererfamilien an Tiroler Pflichtschulen 17,8 Prozent, in Sonderschulen (oder in anderen Schulen nach Sonderschullehrplan unterrichtet) waren es aber 31,5 Prozent. Das heißt: Etwas mehr als jedes dritte Kind, dem in Tirol ein SPF zugeschrieben wurde oder wird, hat eine andere Erstsprache als Deutsch. Und das, obwohl in einem ministeriellen Rundschreiben explizit darauf hingewiesen wird, dass das bloße Nichtbeherrschen der Unterrichtssprache keinesfalls ein Kriterium für die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs sein darf.

Eine Erklärung für diese Überrepräsentation im SPF-Bereich sehen die in der Studie befragten Personen darin, "dass es im Bereich Sprache sehr schwierig zu unterscheiden ist, ob eine tatsächliche Lernbehinderung vorliegt oder ob die Lernschwierigkeiten der Kinder aufgrund sprachlicher Probleme zustande kommen". Deshalb werde in einigen Regionen Tirols auf nichtsprachliche Diagnoseverfahren zurückgegriffen. Das SPF-Label sei oft der einfachere Ausweg, mit dieser Problemlage umzugehen. "SPF wird dann als Entlastung erlebt, weil sich Lehrpersonen häufig zu wenig unterstützt und ausgebildet fühlen, um diese Kinder gut begleiten zu können."

Eine weitere mögliche Ursache für den überdurchschnittlich hohen Anteil an Kindern mit anderer Erstsprache als Deutsch bei SPF-Zuschreibungen vermuten die Forscherinnen auch in der "Tatsache, dass der in Tirol – auch institutionell – stark verankerte Dialekt von allen Interviewpartnerinnen und -partnern unerwähnt geblieben ist. Dass dies möglicherweise eine Erschwernis beim Erwerb der deutschen Sprache darstellen und Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch vor die zusätzliche Aufgabe, auch den Dialekt beherrschen zu wollen, stellen könnte, wurde nur von einer Erstsprachenlehrkraft erwähnt."

Wie es besser laufen könnte

Was also tun, um diese ungerechte und sachlich oft nicht gerechtfertigte Zuschreibung eines SPF-Status zu verhindern? Studienautorin Stefan nennt mehrere Faktoren: "Wertschätzung von Mehrsprachigkeit, vor allem auch von weniger prestigeträchtigen Sprachen, mehrsprachiges Lesen als Schwerpunkt, aber auch offener, projektorientierter Unterricht sind wichtige Maßnahmen, um Kinder mit Sprachproblemen pädagogisch zu unterstützen."

Ein ganz entscheidender Faktor seien zudem die Direktorinnen und Direktoren, wenn es darum gehe, vorhandene Ressourcen zu bündeln und extra Unterstützung zu organisieren – von der Lernhilfe des Roten Kreuzes über den Einsatz von Studierenden bis hin zu Assistentinnen mit anderer Erstsprache. Als eine weitere "Gelingensbedingung" wird eine zweite Lehrperson in der Schuleingangsphase genannt.

Generell sei ein bewussterer Umgang der Schule mit dem Thema Sprache vonnöten, betonen Salvador und Stefan. Dazu gehöre zum Beispiel auch, dass mehr Lehrpersonen mit einer Ausbildung für "Deutsch als Zweitsprache" geschult werden, um wirklich eine effektive Sprachförderung zu garantieren. (Lisa Nimmervoll, 28.6.2023)