Die Oberflächenstation des Ice-Cube-Detektors.
Yuya Makino, IceCube/NSF

Als der Neutrinodetektor Ice-Cube im Jahr 2010 in Betrieb ging, war das erklärte Ziel, der Astronomie ein neues Sinnesorgan zur Verfügung zu stellen. Himmelsbeobachtung war seit Menschengedenken gleichbedeutend mit der Beobachtung von Licht oder verschiedenen unsichtbaren Frequenzen elektromagnetischer Strahlung.

Das sollte sich ändern. Ice-Cube, ein Raster aus 5.000 lichtempfindlichen Sensoren, die am Südpol nahe der Amudsen-Scott-Südpolstation bis zu zweieinhalb Kilometer tief ins Eis versenkt wurden, hatte die Aufgabe, Neutrinos aus dem All zu detektieren. Diese geisterhaften Teilchen sind Teil der kosmischen Strahlung und wurden einst vom Wiener Physiker und Quantenphysik-Pionier Wolfgang Pauli postuliert. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie äußerst leicht sind und keine elektrische Ladung haben, wodurch sie Materie in der Regel durchdringen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Nur in sehr seltenen Fällen trifft ein Neutrino auf einen Atomkern und löst, sofern es genügend Energie hat, einen Teilchenschauer aus, der gemessen werden kann. Auf diese Schauer hat es Ice-Cube abgesehen. Konkret registrieren die Detektoren Lichtblitze im Eis, die von diesen Teilchenschauern ausgelöst werden.

Das Neutrinoereignis mit dem Namen IC170922. Jeder Punkt entspricht einem Detektor im Eis.
IceCube Collaboration/NSF

Seltene Ereignisse

Die Seltenheit von Neutrinowechselwirkungen ist die Crux an diesen Forschungen. Mit Einzelereignissen lässt sich keine gute Wissenschaft betreiben, es braucht große Mengen von Beobachtungen, um statistische Schwankungen auszuschließen. Ice-Cube-Veröffentlichungen lagen in der Vergangenheit oft weniger als hundert Einzelereignisse zugrunde.

Bei Ice-Cube setzte man auf das, was auch Fotografen in dunklen Umgebungen tun: Sie wählen längere "Belichtungszeiten". Im Lauf der inzwischen 13 Jahre seit seinem Bestehen stieg auch die Menge der Neutrinobeobachtungen des Detektors. Nun zapfte das Ice-Cube-Team diesen Datenschatz an und veröffentlichte in einer Studie im Fachjournal "Science" das erste Bild der Milchstraße, das nicht auf irgendeiner Form elektromagnetischer Strahlung basiert.

Das neue Neutrinobild in einer Gegenüberstellung mit einem Bild der Milchstraße, wie es für optische Teleskope aussieht.
IceCube Collaboration/U.S. National Science Foundation (Lily Le & Shawn Johnson)/ESO (S. Brunier)

Über 60.000 von Ice-Cube aufgezeichnete Lichtblitze wurden dafür analysiert. Dabei entsteht allerdings nicht automatisch ein Bild. Ice-Cube ist kein Teleskop im herkömmlichen Sinn, es verfügt über keine Linse und blickt quasi in alle Richtungen gleichzeitig. Um ein Bild zu erhalten, muss die Richtung der Neutrinos bestimmt werden,  das ist anhand der Lichtspuren im Eis möglich. Trotzdem bleibt die Aufgabe schwierig, betont man bei Ice-Cube.

"Das Faszinierende ist, dass das Universum bei Neutrinos, anders als bei Licht jeder Wellenlänge, die nahen Quellen in unserer eigenen Galaxie überstrahlt", sagt Francis Halzen, leitender Wissenschafter bei Ice-Cube und Physikprofessor an der University of Wisconsin-Madison.

Um tatsächlich ein Bild der Milchstraße zu erhalten, dürfen also nur Neutrinos berücksichtigt werden, die auch tatsächlich von dort stammen. Dazu gibt es ständig Störsignale von Teilchen, die aus der irdischen Atmosphäre stammen.

KI-Methoden als Schlüssel

Bei der Auswahl der richtigen Neutrinos kamen KI-Methoden von der Technischen Universität Dortmund zum Einsatz. "Die verbesserten Methoden haben es uns ermöglicht, mehr als eine Größenordnung mehr Neutrinoereignisse mit besserer Winkelrekonstruktion zu erhalten", sagt Ice-Cube-Mitglied Mirco Hünnefeld, der an der Technischen Universität Dortmund sein Doktorat macht und an den Analysen beteiligt war.

Zwei Jahre lang trainierte und testete die Dortmunder Gruppe ihren Algorithmus mit künstlich erzeugten Daten von simulierten Neutrinosignalen, bevor er auf die realen Daten angewandt wurde. Die Menge der für diese Studie verwendeten Daten stammte aus einem Zeitraum von über zehn Jahren und war dreißigmal größer als die jeder bisher durchgeführten Ice-Cube-Studie.

Das Ergebnis ist eine Bestätigung, dass die Milchstraße tatsächlich eine relevante Quelle kosmischer Neutrinos ist. Die in den Neutrinobild der Milchstraße hell erscheinenden Bereiche passen zu bestimmten Regionen, aus denen bisher Gammastrahlen empfangen wurden. In diesen Gebieten der Milchstraße trifft kosmische Strahlung auf interstellares Gas, und es war erwartet worden, dass dort auch Neutrinos entstehen. "Wir haben jetzt ein Neutrino-Gegenstück dazu gemessen und damit bestätigt, was wir über unsere Galaxie und die Quellen der kosmischen Strahlung wissen", sagt Steve Sclafani von der US-amerikanischen Drexel-Universität. In einem nächsten Schritt will man dazu übergehen, bestimmte Neutrinoquellen innerhalb der Milchstraße zu identifizieren.

Eine künstlerische Darstellung der Milchstraße, die das Neutrinobild mit einem optischen Bild kombiniert.
IceCube Collaboration/U.S. National Science Foundation (Lily Le & Shawn Johnson)/ESO (S. Brunier)

Dritte Säule der Astronomie

Ice-Cube hilft damit, die Neutrinos, neben Licht in allen Frequenzen und Gravitationswellen, zunehmend als dritte Säule der Astronomie zu etablieren. Angefangen hat es 2013 mit der Beobachtung eines Neutrinos mit einer extrem hohen Energie von 100 Teraelektronenvolt, dessen Ursprung damals noch im Dunkeln lag. 2017 konnte ein weiteres hochenergetisches Neutrino einem Gammastrahlenausbruch eines Objekts namens TXS 0506+056 zugeordnet werden, das zu den Blazaren gezählt wird, einem Galaxienkern, dessen Aktivität vermutlich von enorm massereichen Schwarzen Löchern stammt.

Den nächsten Schritt könnte ein noch größerer Neutrinodetektor gehen. Ein Team vom Institut für Hochenergiephysik der chinesischen Akademie der Wissenschaften hat erfolgreich Vorarbeiten für ein unterseeisches Neutrinoobservatorium getroffen, das Ice-Cube noch einmal deutlich übertreffen soll. 55.000 Detektoren sollen über ein Volumen von 30 Quadratkilometern verteilt werden, tief unter der Meeresoberfläche, um vor Störeinflüssen geschützt zu sein. Einen Zeitplan für die Realisierung gibt es allerdings noch nicht.

Dass die Neutrinoastronomie einmal eine Rolle spielen würde, ahnte schon der Science-Fiction-Autor Stanisław Lem. In seinem Roman "Die Stimme des Herrn" von 1968 findet sich in einem Neutrinosignal eine sich immer wiederholende, scheinbar zufällige Sequenz, die von einer außerirdischen Intelligenz zu stammen scheint. Die Genauigkeit, von der Lem ausging, wird aber noch für längere Zeit unerreichbar bleiben. (Reinhard Kleindl, 29.6.2023)