Unterstützer der Klage, die auch von Asian Americans vorangetrieben wurde, feiern das Urteil des Höchstgerichts.
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Seit sie existiert, sorgt sie für hitzige Debatten in den USA: Gemeint ist die historische Maßnahme namens Affirmative Action, die in den vergangenen Jahrzehnten die Berücksichtigung ethnischer Abstammung ("race") bei der Uni-Zulassung erlaubte, um die Studentenschaft diverser zu machen. Am Donnerstag wurde die Maßnahme vom Obersten Gerichtshof gekippt – ausgerechnet auf Ansuchen eines konservativen Anwalts, der von Asian Americans unterstützt wurde. DER STANDARD erklärt, wie es so weit kam und was das für Uni-Zulassungen künftig bedeutet. 

Frage: Was ist "Affirmative Action"?

AntwortIn den USA meint man damit Bemühungen von Unis, Diversität auf dem Campus anzuheben, indem sie "race" bei den Bewerbungsverfahren berücksichtigten. An US-Hochschulen sind Schwarze, Latinos und Indigene bis heute unterrepräsentiert. "Affirmative Action" geht auf die Zeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zur Abschaffung der Rassentrennung zurück. Als es 1964 zur Gleichstellung vor dem Gesetz kam, forderte Präsident Lyndon B. Johnson auch Chancengleichheit: "Man kann einen Menschen, der jahrelang in Ketten humpeln musste, nicht einfach auf die Startlinie eines Wettrennens stellen mit den Worten: 'Du bist nun frei fürs Rennen' – und dabei auch noch glauben, man sei überaus fair." Ein Beispiel: 1968 waren gerade einmal vier von 100 Studierenden an der Elite-Uni Harvard Afroamerikaner. Einige Unis führten daraufhin eine Quote für Minderheiten ein.

Frage: Blieb die Regelung so in Kraft?

Antwort: Nein. Eine Quotenregelung für Minderheiten wurden 1978 erfolgreich von dem abgelehnten weißen Medizinstudiumsanwärter Allan Bakke vor dem US-Höchstgericht bekämpft. Seither sind Quotenregelungen also untersagt, "race" darf laut Supreme Court nur dann eine Rolle spielen, wenn sie als einer von mehreren Faktoren berücksichtigt wird. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass es nicht um den Ausgleich vergangener Diskriminierung geht, sondern um einen diversen Campus, von dem letztlich alle profitieren. 2003 wurde vom Supreme Court festgelegt, dass alle Bewerberinnen und Bewerber individuell bewertet werden müssen und ein Punktesystem, das Vorteile für alle Angehörigen dieser Minderheit vorsieht, nicht zulässig sei. 

Nach einem Urteil des Obersten US-Gerichts dürfen Universitäten die Auswahl ihrer Studenten nicht mehr anhand der Hautfarbe treffen.
AFP

Frage: Wie funktionieren die Aufnahmekriterien an Unis?

Antwort: Vor allem Elite-Unis in den USA haben sehr selektive Aufnahmeverfahren, nach Harvard schaffen es nur etwa fünf Prozent der Bewerberinnen und Bewerber. Die Universitäten entscheiden dabei individuell, was sie als verdienstvoll erachten. "Race" war dabei nur eines von vielen Kriterien, neben etwa dem Notenschnitt, außerschulischen Aktivitäten, Empfehlungsschreiben, Auszeichnungen, Bewerbungsessays, persönlichen Kompetenzen und auch "Legacy Preference", also der Bevorzugung nach dem Aspekt, ob bereits ein Familienmitglied ein Studium an dieser Uni absolviert hat. Im Jahr 2016 klagte die weiße Frau Abigail Fisher erfolglos gegen die Entscheidung der Uni Texas, sie nicht aufzunehmen. Ihr Argument: Sie sei nicht aufgenommen worden, dafür aber Angehörige von Minderheiten mit schlechteren Noten. Das stimmt. Allerdings waren unter den erfolgreichen Bewerbern mit schlechteren Noten nur fünf Schwarze und Latinos und insgesamt 42 Personen weiß. Neben Fisher wurden noch 168 Schwarze und Latinos mit genauso guten oder besseren Noten ebenfalls abgelehnt. Seither kämpft der konservative Anwalt Edward Blum an der Spitze der Initiative Students for Fair Admissions gegen Affirmative Action mit ähnlichen Argumenten und brachte diese nun zu Fall. Das Höchstgericht, das nach Richterernennungen durch Ex-Präsident Donald Trump nun als mehrheitlich rechts gilt, gab seiner Klage Recht: Affirmative Action widerspreche der Gleichstellungsklausel. "Der Student muss auf der Grundlage seiner Erfahrungen als Individuum behandelt werden – nicht auf der Grundlage seiner Rasse", hieß es in der Begründung. Auf den ersten Blick kurios: Unter den großteils anonymen Klienten befinden sich zahlreiche Asian Americans, die sich von dem Aufnahmeverfahren Harvards und der Universität von North Carolina benachteiligt fühlten.

Frage: Was ist dran an der Kritik, die Unis würden Asian Americans diskriminieren?

Antwort: Asian Americans sind häufig die zweitgrößte Gruppe an US-Unis, obwohl sie nur rund sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie werden im Hochschulwesen im Gegensatz zu Schwarzen, Latinos und Indigenen also nicht strukturell diskriminiert. Grund dafür ist wohl, dass sie häufig Nachfahren von überdurchschnittlich gebildeten Einwanderern sind, die aufgrund von Einreiserestriktionen für Asiaten erst vor wenigen Generationen in die USA kamen. Und dennoch ist Kritik an den Aufnahmeverfahren angebracht: Harvard wird seit Jahren vorgeworfen, Asian Americans zugunsten anderer Minderheiten und Weißer zu diskriminieren, in dem sie ihnen trotz guter Noten und Minderheitenstatus auf der für die Aufnahme entscheidenden Werteskala weniger "persönliche Fähigkeiten" wie Mut und Tapferkeit bescheinigen. Derweil würden Angehörige von Uni-Professoren und Geldgebern, zumeist Weiße, begünstigt. Harvard steht daher in der Kritik, die Affirmative-Action-Maßnahmen mit seinem Vorgehen in Gefahr gebracht zu haben. Den klagenden Studierenden mit asiatischen Wurzeln wird dagegen vorgeworfen, sich von rechten Konservativen vor den Karren spannen zu lassen.

Frage: Wie geht es künftig an Unis zu?

Antwort: Der Entscheid des Obersten Gerichtshofs untersagt fortan, "race" als spezifischen Faktor bei der Zulassung zu berücksichtigen, Aufnahmeverfahren müssen also abgeändert werden. Dennoch gebe es weiterhin Möglichkeiten, auch persönliche Erfahrungen, die mit der eigenen Herkunft bzw. Abstammung zusammenhängen, geltend zu machen – etwa in den Bewerbungsessays, hieß es vom Supreme Court. Vielfalt sei auch durch eine "farbenblinde" Bevorzugung sozial Schwacher zu erzielen. Doch die liberale Richterin Sonia Sotomayor am Höchstgericht widerspricht der Darstellung der konservativen Richtermehrheit: Das sei ein falsches Versprechen, von dem sich niemand in die Irre führen lassen wird. Sie empfiehlt Universitäten für eine diverse Studierendenschaft, künftig Sprachen mehr Gewicht zu geben oder Bewerberinnen und Bewerber vorzuziehen, die aus einer nichtakademischen Familie kommen. Auch die Regierung von Präsident Joe Biden hat neue Maßnahmen zur Wahrung von Vielfalt an Unis angekündigt. An Militärunis darf "race" dagegen weiter ein Kriterium bleiben.

Frage: Welche weitreichenden Entscheidungen hat der Supreme Court diese Woche noch gefällt?

Antwort: Das Höchstgericht hat den von US-Präsident Biden geplanten Erlass von Studentenkrediten blockiert, wonach ehemaligen Studierenden 430 Milliarden Dollar an Kreditschulden erlassen worden wären. Von dem Plan sollten bis zu 43 Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner profitieren. In einer weiteren Entscheidung erklärte das Gericht es aufgrund des Rechts auf freie Meinungsäußerung für rechtmäßig, dass Unternehmen gewisse Kundinnen und Kunden, im vorliegenden Fall geht es um LGBTIQ-Personen, von Leistungen ausschließen. (Flora Mory, Noura Maan, 30.6.2023)