Paris – Nach dem Tod eines Jugendlichen durch eine Polizeikugel beruhigt sich die Lage in Frankreich weiterhin nicht. Während in einigen Städten die Situtaion weniger angespannt schien als zuletzt, kam es primär in Paris, Marseille und Lyon erneut zu Unruhen. Laut Innenministerium wurden 719 Menschen festgenommen - deutlich weniger als die 1.311 in der Nacht zu Samstag.

Die Pariser Prachtstraße Champs Élysées wurde von einem großen Polizeiaufgebot unter Einsatz von Tränengas geräumt, wie "Le Figaro" berichtete. Zahlreiche Geschäfte hatten ihre Schaufenster mit Brettern vernagelt, um Zerstörungen und Plünderungen zu verhindern. Vereinzelt kam es zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei. Nach deren Angaben wurden in der Nacht zum Sonntag sechs öffentliche Gebäude beschädigt und fünf Polizisten verletzt. Allein in der Hauptstadt gab es demnach 315 Festnahmen.

Menschenmengen und Einsatzkräfte auf Pariser Champs Élysées, Proteste
Die Pariser Champs Élysées wurde von der Polizei unter Einsatz von Tränengas geräumt.
REUTERS/NACHO DOCE

Innenminister Gérald Darmanin schrieb auf Twitter, die Nacht sei "dank des entschlossenen Vorgehens der Ordnungskräfte" eine ruhigere gewesen. Premierministerin Élisabeth Borne lobte die Einsatzkräfte: Angesichts der Gewalttätigkeiten zeigten sie beispielhaften Mut, schrieb sie auf Twitter. 45.000 Polizisten und Tausende Feuerwehrleute seien im Einsatz gewesen.

Gepanzerte Fahrzeuge in Marseille

Dennoch kam es in einigen Orten zu teils massiven Gewaltausbrüchen. Der größte Krisenherd war in der Nacht Marseille. In der Innenstadt kam es zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei, die Tränengas einsetzte. Etliche Menschen versuchten, Geschäfte zu plündern. Auch in Nizza sowie in Straßburg kam es vereinzelt zu Zusammenstößen.

Besonders in Marseille, Lyon und Grenoble wurde die Polizeipräsenz massiv verstärkt. Nachdem in Marseille zuvor eine Waffenkammer geplündert worden war, war die Polizei dort nun mit gepanzerten Fahrzeugen, Hubschraubern und Spezialtruppen im Einsatz.

Polizeigewalt und Rassismus

Auslöser für die Unruhen war der Tod eines Jugendlichen durch einen Polizisten. Der 17-jährige Nahel war am Dienstag in Nanterre am Steuer eines Autos von einer Motorradstreife gestoppt worden. Als der junge Mann plötzlich anfuhr, fiel ein tödlicher Schuss aus der Dienstwaffe eines Polizisten. Die Beamten hatten zunächst angegeben, der Jugendliche habe sie überfahren wollen. Gegen den Beamten wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags eingeleitet. Der Jugendliche wurde am Samstagnachmittag in seinem Heimatort Nanterre nahe Paris beigesetzt. 

Die Ursachen für den Gewaltausbruch reichen weit zurück, die Probleme der Banlieus sind seit langem bekannt. Viele Menschen aus armen Stadtvierteln und tristen Arbeiter-Vorstädten, in denen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft leben, fühlen sich benachteiligt und von der Regierung vernachlässigt. Sie beklagen mangelnde Perspektiven. Es herrschen Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Seit Jahren häufen sich zudem Beschwerden über Polizeigewalt und Rassismus.

Polizisten stehen auf Straße in Marseille, Proteste wegen Tötung eines Jugendlichen
In Marseille wurde die Polizeipräsenz massiv verstärkt.
AFP/CLEMENT MAHOUDEAU

Veranstaltungen abgesagt

Wegen der Unruhen sagte Präsident Emmanuel Macron seinen Staatsbesuch in Deutschland am Samstag ab. Es wäre der erste Staatsbesuch eines französischen Präsidenten in Deutschland seit 23 Jahren gewesen. Doch die innenpolitische Lage zwingt Macron, in Frankreich zu bleiben.

Auch mehrere Konzerte, Modeschauen und andere Kulturveranstaltungen wurden in Frankreich abgesagt. Busse und Straßenbahnen fahren derzeit nur tagsüber, der Verkauf und das Mitführen von Feuerwerkskörpern und brennbaren Stoffen wurden verboten. Den nationale Notstand rief die Regierung allerdings bisher nicht aus, auch Ausgangssperren wurden nur vereinzelt in kleineren Orten verhängt.

Bei den seit Tagen andauernden Krawallen ist erheblicher Sachschaden entstanden. Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire gab am Samstag bekannt, seit Dienstag seien mehr als 700 Läden, Supermärkte, Restaurants und Bankfilialen geplündert oder sogar zerstört worden.

Angriff auf Wohnhaus eines Bürgermeisters 

In einem Pariser Vorort wurde in der Nacht auf Sonntag das Wohnhaus eines Bürgermeisters angegriffen, während dessen Familie zu Hause schlief. Randalierer hätten das Haus mit einem Auto gerammt und Feuer gelegt, schrieb Vincent Jeanbrun, Bürgermeister von L'Haÿ-les-Roses, auf Twitter. Seine Frau und eines seiner Kinder seien verletzt worden.

Nach Angaben des Fernsehsenders BFMTV leitete die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung wegen versuchten Mordes ein. Der Bürgermeister selbst befand sich in der Nacht noch im Rathaus. Das Gebäude der Behörde war wegen versuchter Angriffe mit Stacheldraht verbarrikadiert und von Polizisten bewacht. Das Privathaus, in dem die Frau des Bürgermeisters mit ihren zwei kleinen Kindern schlief, war jedoch nicht gesichert.

Auch in der Schweiz haben sich mehr als hundert Jugendliche am Samstagabend im Stadtzentrum von Lausanne versammelt. Sie verursachten Sachbeschädigungen an Geschäften, wie die Stadtpolizei mitteilte. Sieben Personen wurden festgenommen. (APA, red, 2.7.2023)