Reichenau
Robert Meyer führt nicht nur Regie, er verkörpert auch Hausknecht Melchior (li., zusammen mit Kaspar Simonischek und Alexandra Schmidt).
Lalo Jodlbauer

Zu Nestroys Zeiten konnte es passieren, dass angehende Gewürzhändler, die ihre liebe, lange Zeit im "Gwölb" verbrachten, ein tiefes Ungenügen empfanden. Es gab keine sozialdemokratischen Versprechungen, die den Ladendienern ihre gewerkschaftliche Organisation in Aussicht stellten. Auch gab ihnen kein Gott zu sagen, was sie unter der Launenhaftigkeit ihrer Prinzipale litten.

Einzig und allein Johann Nestroy verhalf ihnen zu ihrem satirischen Recht. In Einen Jux will er sich machen (1842) tauscht der "Mussi" Weinberl den Pfeffer aus dem Warenlager gegen die Pfiffigkeit, das "Gwixte", ein. Ausgerechnet die Tugend der Durchtriebenheit soll es richten, notabene auf ungewohntem Terrain. Der Ausbruch in die Anarchie, hier: in die Großstadt Wien, währt nur kurz. Am Ende bleiben auch bei den Reichenauer Festspielen nur reihum Entgeisterte zurück: Zwangsverheiratete, vom Wahnwitz Kurierte, unters Joch der Gewohnheit mit Nachdruck Gebeugte.

Aber es hat diese Kommerz-Kanaillen schon lange niemand so zärtlich ins Visier genommen, so einlässlich und liebend behandelt wie diesmal Robert Meyer. Dem Reichenau-Rückkehrer gelingt zweierlei aufs Trefflichste: Er bewegt, in seiner Eigenschaft als Regisseur, vor den Kulissen eines bunt ausgemalten Bilderbuchs (Ausstattung: Christof Cremer) entzückende kleine Karikaturen.

Gier nach fremder Leute Geld

Der Gewürzkrämer (Robert Reinagl) bildet ein mächtiges Massiv, aber er ist nicht grob - und noch in seiner Gier nach fremder Leute Geld ein authentisch Getriebener: Der Kommerz kennt nicht nur kein Pardon, er macht auch keine Eh‘standspausen. Herr Sonders (Kaspar Simonischek), der Zanglers Mündel unsäglich begehrt, ist ein graziler, dabei sozial unbedingt alerter Tölpel. Wohin das post-biedermeierliche Auge auch blickt, nur kleine, feine Episoden: Figuren, die in ihrer Seide und in den viel zu langen Röcken stecken wie in Charakterpanzern - und tieftraurige Geschichten erahnen lassen wie die zu wahrer Matronatsgröße emporgeschossene Witwe Frau von Fischer (Maxi Blaha).

Das Zentrum der Aufführung ist mindestens solide besetzt. Der Handlungsdiener Weinberl (David Oberkogler) knistert vor Trockenheit - und schleudert die Pointen wider die Gesellschaft und die schwarz-blaue Koalition in Niederösterreich weniger als Blitze, eher verabreicht er Fingerhutproben feinsten Lebertrans. Dann "gendert" er und verwandelt einen persischstämmigen Gesangskünstler in eine Landbäuerin. Weinberls Lehrbub Christopherl (Paula Nocker) trägt zum Ausgang einen feinen, drillichblauen Bertolt-Brecht-Anzug. Und beider Stranden in den nachtfinsteren Bezirken der eigenen Einbildungskraft gleicht einem sanften, pädagogischen Programm: Das "Merkantilische" schlägt eben alles, auch noch das für wahr Gehaltene, in seinen Bann.

Meyer aber führt eben nicht nur Regie, sondern er verkörpert auch den groben, vor plebejischem Irrwitz funkelnden, agil dahinschlurfenden Hausknecht Melchior. Der weiß von allem, was sich so zuträgt, vor allem Folgendes zu sagen: Es sei eben "klassisch". Meyers Augen können durchbohren.

Salto zurück aus der Volksoper

Klassisch ist auch Meyers Rückkehr ins Nestroy-Fach, ein Salto zurück aus der Volksoper, hinein in angestammtes Terrain. Hinter den Papierwänden dieser Traumausflucht ist bereits der Komödienmechanismus eines Feydeau spürbar tätig. Man atmet die Düfte kommender Neurosenblüte, etwa im Salon des untröstlich selbstsüchtigen Fräuleins von Blumenblatt (Mercedes Echerer).

Nestroys Stadterkundung durch ein paar schwärmerische Handelsgehilfen nimmt auch schon das Wien um 1900 vorweg. Alles ist gut aufgehoben hier im Reichenauer Gewürzkramladen: der Pfeffer, die Essigsäure, der reine Wein zum Einschenken. Mit diesem bejubelten Einstand könnte 2023 für Maria Happels Sortiment am Theaterhandelsplatz Reichenau noch ein ganz besonderer Jahrgang werden. (Ronald Pohl, 2.7.2023)