Reichenau Festspiele Tartuffe
Kann denn Nächstenliebe Sünde sein? Ein Blutegel namens Tartuffe (Stefan Jürgens) wahrt in Betreff der schönen Hausherrin Elmire (Emese Fay) den barocken Schein.
Lalo Jodlbauer

Es ist kein Leichtes, einem durchtriebenen Heuchler wie dem Frömmler Tartuffe Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Molières wüstester Komödien-Titelheld versteht es, die Angehörigen der Familie Orgon an deren empfindlichsten Stellen zu kitzeln: Dadurch kann er umso wirkungsvoller an ihrem Reichtum parasitieren.

Im Neuen Spielraum des Theaters Reichenau wird dem Manne die Ausübung seines Handwerks, das eines Wüstlings, nicht eben erleichtert. In der viel zu großen Arena steht eine blutrote Tafel. An ihr nehmen die Orgons mitsamt ihrer quirligen Domestikin (Stefanie Dvorak als Dorine) zunächst wie erschlagen Platz. Ausschweifungen aller Art haben die Sippe moralisch geschwächt, ihr schwaches Fleisch zermürbt. Elmire (Emese Fay), die Herrin des Hauses, trifft sogar Anstalten, sich in einen Sektkübel zu übergeben. An der Wand hängt La Caritas Romana von Artemisia Gentileschi als Wandvorhang: die Illustration einer Legende, der zufolge die Tochter ihren eigenen Vater stillt, um ihn vor dem Hungertod zu erretten (Bühne: Ezio Toffolutti).

Der titelgebende Schmarotzer hat seinen ersten Auftritt spät: Stefan Jürgens legt ihn mit seinem langen Silberhaar als esoterischen Blutegel an. Dieser hält mit seinem Begehren nicht lange hinterm Berg. Er macht der Hausfrau (Fay) reichlich unverfroren den Hof – interessanterweise über den Abstand vieler Meter hinweg. Zu anderer Gelegenheit liegt er während langer Ruhephasen wie Adam untätig hingestreckt auf dem Tisch. Fehlt nur, dass Gottvaters Zeigefinger den seinen berührt.

Unwürdiger Tyrann

Leider kann Regisseur Guntbert Warns nicht recht verdeutlichen, was er erzählen möchte. Der Bürger Orgon (Dirk Nocker) verkörpert das Dilemma des Frühvergreisten, der auch durch das Tragen unwürdiger Perücken kein bisschen begehrenswert erscheint. Da kann er sich noch so erotisch auf den Tisch fläzen und, ganz Pantoffeltyrann, den hysterischen Sohn (Skye MacDonald) zur Schnecke machen.

Mutter Pernelle (Elisabeth Augustin) und Schwager Cléante (Michael Masula) schwingen Reden. Die eine votiert für Tartuffe, der andere für die Vernunft. Beide Figuren bleiben vage: keine Salonlöwen, sondern Papiertiger. Nie weiß man, wie diesen salbungsvollen Schwätzern unter ihren Seidenkostümen (von Erika Navas) wahrhaft zumute ist.

Tartuffe nützt die Gutgläubigkeit seiner Quartiergeber aus, er möchte Elmire beglücken und die ihm qua Schenkung zuteil gewordene Habe Orgons verkonsumieren. Molière erscheint zur Auflösung höchstpersönlich. "Der Mensch ist, ich gesteh‘ es euch, ein böses Lebewesen." Es ward schon Schrecklicheres gesehen als in dieser nicht sehr illuminierenden Aufführung. (Ronald Pohl, 3.7.2023)