Fieber oder Unterkühlung, Atemnot und ganz generell: Schmerzen. Zudem Schüttelfrost, Ausschlag, punktförmige Hautblutungen, Hämatome, Herzrasen, niedriger Blutdruck, Verwirrung, Schläfrigkeit, Übelkeit und Erbrechen: Suchmaschine Google spuckt eine unendlich lang erscheinende Liste an Symptomen für Blutvergiftungen aus.

Das könnte laut Clemens Heitzinger auch der Grund dafür sein, dass eine Sepsis schwierig zu diagnostizieren ist. "Sie ist die häufigste Todesursache in der Intensivmedizin" sagt er. Geht es nach Heitzinger, soll das nun eine künstliche Intelligenz ändern.

Heitzinger ist zwar kein Mediziner, befasst sich als Mathematiker aber trotzdem mit Blutvergiftungen und deren Merkmalen. Er ist Co-Direktor des Center for Artificial Intelligence and Machine Learning (CAIML) und leitet die Forschungsgruppe "Maschinelles Lernen und Unsicherheitsquantifizierung" an der Technischen Universität Wien.

Mit einem Team aus Diplomandinnen und Doktoranden widmet er sich pro bono einem Projekt, bei dem ein Algorithmus mit Daten von Sepsis-Intensivpatienten gefüttert worden ist. Das Ziel ist, die Erkrankung früh zu erkennen und den idealen Behandlungsplan vorzuschlagen.

Porträtbild von Clemens Heitzinger, er trägt ein graues Hemd, schwarzes Sakko; seine Haare sind dunkelgrau und kurz
Clemens Heitzinger
Clemens Heitzinger von der TU Wien arbeitet mit seinem Team an einer KI, die Sepsen rasch erkennen und optimal behandeln soll.
Ernst Kainerstorfer

Jede dritte Sekunde

Laut Global Sepsis Alliance stirbt weltweit alle 2,8 Sekunden ein Mensch an einer Blutvergiftung. Auslöser können nahezu alle akuten Infektionskrankheiten sein. Eine Blutvergiftung entsteht, wenn der Körper eine Infektion abwehrt, dabei aber das eigene Gewebe und die eigenen Organe schädigt. Sie gilt als medizinischer Notfall und kann zu Kreislaufzusammenbruch, Multiorganversagen und sogar zum Tod führen.

Dass Heitzinger Intensivpatienten ausgewählt hat, liege schlicht daran, dass auf Intensivstationen sehr viele Daten erhoben werden. Im Schnitt würden Maschinen alle vier Stunden bis zu 200 Merkmale an jedem einzelnen Patienten messen. Manche Werte werden auch häufiger erhoben, der Kreislauf etwa werde im Minutentakt überwacht.

In Zusammenarbeit mit Oliver Kimberger von der Medizinischen Universität Wien haben Heitzinger und sein Team zunächst verschiedene Algorithmen ausprobiert und erweitert. Damit die künstliche Intelligenz schließlich die optimale Behandlungsstrategie für die jeweilige Sepsis erlernt, hätten sie den Algorithmus mit mehreren Zehntausend Patientenakten gefüttert – davon mindestens 10.000 septische Patientinnen und Patienten.

Pluspunkte bei Genesung

Die Forscher haben zudem historische Daten untersucht und herausgefunden, dass Menschen auf ein halbes Dutzend Merkmale gleichzeitig achten. Die künstliche Intelligenz hingegen könne problemlos eine Vielzahl an Symptome gleichzeitig berücksichtigen und die Sepsis rascher erkennen.

Bearbeitet wurde der Algorithmus mit dem sogenannten Reinforcement-Learning, auch bestärkendes Lernen genannt. Das funktioniert so: Der Computer bekommt die Daten eines virtuellen Patienten und schlägt laufend Behandlungen vor. Verbessert sich sein Zustand und er kann die Intensivstation verlassen, wird das System mit einem Pluspunkt belohnt. Verstirbt der Patient, wird es mit einem Punkt Abzug bestraft. So lernt der Algorithmus allmählich, welche Behandlungsmethoden effektiv waren und welche keine Wirkung zeigten.

Wichtig ist dabei auch, wie virtuelle Patientinnen auf verabreichte Medikamente reagiert haben. Die KI müsse zudem in die Zukunft blicken, da sich die Konsequenz der Behandlungsschritte erst später zeige, wie Heitzinger erklärt: "Unser Algorithmus lernt aus vergangenen Behandlungen, für die sich Ärztinnen und Ärzte im jeweiligen Fall entschieden haben."

Illustration, die Gewebe, Blut und einen Computer zeigt
Für jede erfolgreiche Behandlung, wird der Algorithmus mit einem Pluspunkt belohnt
Illustration: Fatih Aydogdu

KI berät, Ärztinnen entscheiden

Die künstliche Intelligenz hat laut Heitzinger großes Potenzial in der Aus- und Weiterbildung. Damit sie allerdings als medizinisches Produkt in Krankenhäusern eingesetzt werden kann, brauche es eine Zulassungsstudie, und die koste viel Geld.

Dennoch werde es schon bald Standard sein, dass Algorithmen Behandlungspläne erstellen, schätzt Heitzinger. In Simulationen sei verglichen worden, was ihre Unterstützung tatsächlich bringt. Das Ergebnis: Ohne den Einsatz von künstlicher Intelligenz überlebten 85 von 100 Patienten 90 Tage, mit der KI-Strategie waren es um drei mehr.

Vielleicht schon in fünf Jahren könnte die KI routinemäßig mitlaufen, vermutet Heitzinger. Ganz ohne Ärztinnen und Ärzte werde es aber dennoch nicht gehen.

Einem Patient wird Blut abgenommen.
KI berät bei Blutvergiftung
Die Entwickler, dass der Algorithmus in rund fünf Jahren in den Spitälern eingesetzt wird.
APA/HANS KLAUS TECHT

Rechtliche Grundlage

Dieser Meinung schließt sich auch Philipp Leitner an. Er beschäftigt sich als Rechtsanwalt seit Jahren mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, die es für den Einsatz von künstlicher Intelligenz im medizinischen Bereich benötigt.

Bevor eine KI etwa zur Sepsisbehandlung in Spitälern eingesetzt werden kann, ist laut Leitner noch einiges zu tun. So müsse zunächst sichergestellt werden, dass die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen eingehalten werden. Denn eine künstliche Intelligenz darf aufgrund von verarbeiteten Gesundheitsdaten grundsätzlich keine vollautonome Entscheidung treffen.

Demnach sei eine verbindliche Verschreibung einer Therapie ohne ärztliche Einbindung unzulässig. Die Überlegung bei KI-Tools sei aber ohnehin, dass es immer eine menschliche Kontrolle geben soll und der Algorithmus als Hilfssystem dient. Leitner ist überzeugt, dass KI zukünftig auch in der Medizin eingesetzt wird. Wichtig sei aber, dass die Systeme dem Arzt und der Ärztin nicht die Entscheidungsfreiheit nehmen dürfen. (Julia Beirer, 7.7.2023)