Für gewöhnlich sind die Rollen vertauscht. Da ist es die SPÖ, die sich seit Jahren in Wien mit einem beschäftigt, der einst die Volkspartei geprägt hatte. Umgestalten, umbenennen oder entfernen? Geht es um umstrittene Personen der Geschichte, die in Wien mit Denkmälern oder Straßennamen geehrt werden, geht es vor allem um einen: Karl Lueger, Gründer des ÖVP-Vorgängers, der Christlichsozialen Partei, und Antisemit.

Jener Teil der Wiener Ringstraße, der einst seinen Namen trug, heißt mittlerweile nach dem größten Gebäude, das er beheimatet: Universitätsring. Das Denkmal, das Lueger einst erbaut wurde, soll nach Jahren der öffentlichen Debatte nun kontextualisiert und nach rechts gekippt werden.

Doch diesmal ist es anders herum. Vergangene Woche forderte die ÖVP per Gemeinderatsantrag einen Marxismus-Check. Erstens bei Förderungen, zweitens bei Straßennamen und anderen Ehrungen im Stadtbild. Begründet wird das Ansinnen mit der Gesinnung des neuen SPÖ-Chefs Andreas Babler: ein mutmaßlicher Marxist.

In Döbling trägt ein Gemeindebau seit 1930 seinen Namen: Karl Marx. Die nach ihm benannte Straße und der Platz heißen nun anders.
Heribert Corn

Begibt man sich in der Bundeshauptstadt auf die Spuren von Marx, kommt man an einem Bauwerk nicht vorbei: dem Karl-Marx-Hof in Wien-Döbling. 1930 eröffnet, soll der Gemeindebau mit seinen rund 1.050 Meter Länge der größte zusammenhängende Wohnbau der Welt sein. Heute beherbergt er mehr als 1.200 Wohnungen und gilt als Vorzeigeprojekt des "Roten Wien".

Doch was ist Marxismus eigentlich? Und wie stark gestaltet er wirklich das Stadtbild?

Streit im Gemeinderat

Hitzig wurde die Thematik zuletzt im Wiener Gemeinderat diskutiert. Wenn man sich anschaue, wofür Personen wie Lenin in der Geschichte stehen, dann seien das "Unterdrückung, Folter und Mord", erklärte ÖVP-Mandatarin Laura Sachslehner. Auf Twitter hatte sie ihre Kritik kurz davor mit einer plakativen Fotomontage illustriert: Diese zeigt den SPÖ-Vorsitzenden Babler an der Seite von Marx und Wladimir Iljitsch Lenin.

Zwei Gemeindebauten, einen Platz und eine Doppelhaltestelle kann Marx' Weggefährte Friedrich Engels für sich beanspruchen.
Stefanie Rachbauer

SPÖ-Gemeinderat Jörg Neumayer konterte mit einer anderen wichtigen Identifikationsfigur der Sozialdemokratie. Er riet Sachslehner in Anspielung auf Bruno Kreisky: "Lernen S' Geschichte".

In seiner Urform geht der Marxismus auf die Lehre der beiden Philosophen Karl Marx und Friedrich Engels zurück. Beide lebten zur Zeit der Industrialisierung – Arbeiter mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen standen damals Fabriksbesitzern mit großem Reichtum und Besitz gegenüber.

Die nach den deutschen Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg benannten Gassen kreuzen sich im 16. Bezirk.
Oona Kroisleitner

Die Marx'schen Schriften kritisierten diesen Zustand. Waren seien bloß wegen des Profits produziert worden – die Ausbeutung von Mensch und Natur bewusst in Kauf genommen worden, so die Marx'sche Kritik. Die Vision von Marx und Engels war der Kommunismus: eine klassenlose Gesellschaft, in der genau diese Ausbeutung und Unterschiede zwischen Menschen nicht mehr existieren.

Kritik an Gräueltaten

Auch wenn der Aufschrei aktuell groß ist: Der Marxismus hat seit jeher eine lange Tradition in der SPÖ. In Österreich entstand vor etwa 120 Jahren mit dem Austromarxismus unter dem hochrangigen Sozialdemokraten Otto Bauer eine eigene Strömung. Der "österreichische" Marxismus wurde zur Leitlinie der SPÖ in der Ersten Republik.

Otto Bauer ist Vordenker des Austromarxismus. Eine Gasse im sechsten Bezirk und ein Heim tragen seinen Namen, eine Sondermünze sein Konterfei.
Stefanie Rachbauer

Von der Diktatur einer einzelnen Partei und den autoritären Absichten, wie der Marxismus etwa von Lenin interpretiert wurde, hielten Bauer und die Partei aber Abstand. Der Austromarxismus wollte die gesellschaftliche Veränderung mit parlamentarischen Mehrheiten und durch die Demokratie erreichen. Eine Politik, die bis heute vor allem in Wien ihre Spuren hinterlassen hat: Von 1918 bis 1934 entstanden zahlreiche soziale Wohnbauten, die bis heute bestehen – darunter auch der Karl-Marx-Hof in Döbling.

Die Büste von Ernesto "Che" Guevara auf dem Betonsockel im Donaupark wurde beschmiert. Schon bei der Enthüllung gab es Protest.
Stefanie Rachbauer

Während auch heute noch die Marx'schen Ideen aufgegriffen werden, um auf Wirtschaft und Politik zu blicken und auf die Auswirkung des Kapitalismus aufmerksam zu machen, gilt für Kritikerinnen und Kritiker der Marxismus als Ursache für Gräueltaten: Er wurde von etlichen Ländern, beispielsweise China und Nordkorea, als Staatsideologie vereinnahmt.

Allen voran die Sowjetunion unter Lenin und später Josef Stalin wollte im 20. Jahrhundert einen Staat nach Marx'scher Idee schaffen. Das diktatorische Regime kostete bis zu seiner Auflösung Millionen Menschen das Leben.

1913 lebte Josef Stalin in Meidling, darauf weist seit 1949 eine Tafel hin. 2012 wurde eine Zusatztafel den Opfern des Stalinismus gewidmet.
Oona Kroisleitner

"Mörder" steht auch auf dem Denkmal im Wiener Donaupark. Die Büste des Marxisten und Rebellenführers der kubanischen Revolution, Ernesto "Che" Guevara, ist Ort der öffentlichen Auseinandersetzung – so wie es das Lueger-Denkmal ist. Dort ist das Wort "Schande" auf den Sockel geschmiert. (Max Stepan, Oona Kroisleitner, Stefanie Rachbauer, 4.7.2023)