Ein altes Bild von vier Kindern in einem Campingbus
Die Autorin und ihre Geschwister Mitte der 2000er-Jahre.
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Ich erinnere mich an die Blitze, die über den Himmel zuckten. Den Donner, der sich im Innenhof des Hauses verfing, in dem wir damals wohnten. Und ich erinnere mich an meine ältere Schwester, die zwei dicke Decken auf dem Küchenboden ausbreitete. Auf einer rollten wir uns ein, die andere zogen wir uns über die Köpfe.

Meine ältere Schwester lag im Halbdunkel rechts von mir, mein Bruder spähte links von mir unter der Decke hervor, und neben ihm verriet ein rotbrauner Lockenkopf das Versteck meiner jüngeren Schwester. Ich weiß nicht mehr, wo unsere Eltern an diesem Nachmittag waren. Aber ich erinnere mich an die Gewissheit, dass uns vier zusammen trotz Donners und Blitzen nichts passieren würde.

Heute sind wir alle erwachsen, an unterschiedlichen Punkten irgendwo in der Dekade zwischen zwanzig und dreißig. Heute sind es keine Sommergewitter mehr, sondern Todesfälle, Trennungen, Geburten und Krankheiten, die uns Angst machen. Aber das Gefühl ist dasselbe: Uns vier zusammen wird nichts passieren.

Schock auf dem Kinderzimmerteppich

Geschwisterbeziehungen sind einzigartig. Das macht es so schwer, über sie zu schreiben. Niemand sonst kennt einen von Geburt an. Ja, die Eltern, die erziehen, und die Großeltern, die verziehen müssen. Die Erwachsenen im Leben eines Kindes müssen es schlicht am Leben halten. Die Geschwister müssen gar nichts, außer nach Möglichkeit nicht zum Scheitern dieser Aufgabe beizutragen. Zu ihnen knüpft man die ersten Beziehungen unter Gleichen im Leben, und im besten Falle bleiben sie auch ein Leben lang bestehen.

Dabei beginnt alles mit einem Schock. Ein Kind kann nicht verhindern, dass seine Eltern auf einmal ein fremdes kleines Wesen mit nach Hause bringen. Es ist laut, es ist klebrig, man muss mit ihm Spielzeug, Bett und Aufmerksamkeit teilen, und am Ende darf man es nicht einmal zwicken. Womöglich passiert das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und dann sitzt man irgendwann auf dem Teppich und informiert das neueste Kind routiniert, dass man das mit dem Lego in der Nase schon probiert hat und es keine besonders gute Idee ist. Das ist das Glück der Jüngeren und das Pech der Älteren.

Der Psychologe Alfred Adler nannte den Moment, in dem das Erstgeborene seinen ungeteilten Platz an der Sonne verliert, das "Entthronungstrauma". Das ist aber vermeidbar, meint der Wiener Entwicklungspsychologe Harald Werneck. Denn es sind die Eltern, die den Ton angeben, der dann oft ein Leben lang in einer Geschwisterbeziehung herrscht. Entscheidend ist, wie sie ihr Kind auf sein neues Geschwisterchen vorbereiten. "Ob das Baby als Bereicherung oder Bedrohung angekündigt wird, macht durchaus mittel- und längerfristig für die Geschwisterbeziehung einen großen Unterschied", meint Werneck. Sätze wie "Jetzt wirst du lernen müssen zu teilen" oder "Bald stehst du nicht mehr im Mittelpunkt" seien da wenig hilfreich. Stattdessen könne man dem älteren Geschwisterkind zeigen, dass das Baby sich über seine Aufmerksamkeit freut, sich vielleicht sogar von ihm trösten lässt.

Ein älterer Bruder unterhält das Baby, während es gewickelt wird.
Das "Entthronungstrauma" muss nicht sein.
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Jede Familie ein Kosmos

An die Zeit, in der es nur meine ältere Schwester und mich gab, kann ich mich nicht erinnern. In vielen meiner Erinnerungen sind wir zu dritt, in den meisten schon zu viert. Ich war schon immer Schwester. Es ist eine schöne Rolle und eine, die sich ständig verändert. Zunächst unterhält man ein Baby oder zieht ein Kleinkind aus dem Gebüsch. Später hilft man bei den Aufgaben oder beantwortet Fragen, die Eltern nichts angehen.

Sich kümmern zu können kann für das ältere Kind eine schöne Erfahrung sein. Doch aus dem Können sollte kein Müssen werden, sagt Werneck. Besonders älteste Töchter berichten oft davon, schon als Kind stets für Kinder verantwortlich gewesen zu sein. Auf Social Media tauschen sie sich über ihre Erfahrungen als "drittes Elternteil" aus. Auch für mich war meine ältere Schwester so jemand. Lange Jahre war sie der Mensch, der mir am vertrautesten war.

Egal welchen Platz man in der Geschwisterreihe einnimmt, für jeden von ihnen gibt es ein passendes Klischee: das verantwortungsbewusste Erstgeborene, das rebellische Sandwichkind, das verwöhnte Nesthäkchen. Doch Werneck warnt davor, Kinder in solche Kästchen einzusortieren. "Jede dieser Theorien gerät ins Wanken, wenn man sich die empirischen Grundlagen genauer ansieht", sagt er. Denn aus der Anzahl der Geschwister, ihren Geschlechtern und Altersabständen ergeben sich viele mögliche Konstellationen. So wird aus jeder Familie ein eigener Kosmos und aus den meisten Theorien eine grobe Verallgemeinerung.

Oft wird auch übersehen, dass jedes Kind ein kleiner Mensch mit ganz unterschiedlichen Stärken und Schwächen ist. "Es kann sein, dass Konstellationen sehr ähnlich sind: Eine ältere Schwester bekommt nach drei Jahren ein Geschwisterkind. Aber in einem Fall ist das Mädchen vielleicht eher introvertiert und zurückgezogen, im anderen Fall ist es genau umgekehrt", sagt Werneck. "Wenn die Persönlichkeiten verschieden sind, ist auch die Ausgangslage eine andere, selbst wenn sie von außen gleich aussieht."

Goldkind und schwarzes Schaf

Und doch gibt es Erfahrungen, die wohl viele teilen. Schwestern etwa den verstörenden Moment, in dem der kleine Bruder plötzlich stärker ist. Erstgeborene das Gefühl, dass sie gern noch etwas länger Kind geblieben wären. Letztgeborene die Melancholie, die sich in den leeren Kinderzimmern der ausgezogenen Geschwister einstellt. Und ja, als Sandwichkind muss man manchmal laut sein, damit man zwischen pubertierenden älteren und hilfsbedürftigen jüngeren Geschwistern nicht untergeht. Ich weiß das. In meiner Familie bin nämlich ich Salami und Salatblatt.

Bis zu einem gewissen Grad spielt jedes Mitglied einer Familie eine Rolle, sagt Werneck. Oft fällt man in sie zurück, wenn man beisammen ist, und wird sie sein ganzes Leben lang nicht wirklich los. Das wird schwierig, wenn die Rolle keinen Raum für den Menschen dahinter lässt. In manchen Familien gibt es nur hell und dunkel, goldenes Kind und schwarzes Schaf. Wenn Geschwister in derselben Familie gegensätzliche Erfahrungen machen, nimmt ihnen das die gemeinsame Erinnerung und Wahrnehmung, die so bestärkend sein kann. Manche erfahren durch ihre Geschwister zum ersten Mal, wie es ist, von einem anderen Kind gequält zu werden. Andere befinden sich über Jahrzehnte mit ihren Geschwistern im Wettstreit oder können schlicht nichts mit ihnen anfangen. Auch das hat Platz im komplizierten Kosmos der Geschwisterbeziehungen.

Bruder und Schwester auf einer Wiese.
Wie sich Geschwister verstehen, können Eltern nachhaltig beeinflussen.
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Auf dem E-Scooter in den Sonnenuntergang

Verbindet Geschwister aber eine sichere, vertraute Beziehung, kann man völlig man selbst sein. Der professionelle, souveräne, erwachsene Mensch beginnt zu bröckeln. Auch die größeren und kleinen Lügen, die man sich selbst erzählt, sind plötzlich wenig überzeugend – wem will man denn etwas vormachen? Bestimmt nicht der Schwester. Die hat nämlich gesehen, wie man heulend der zufallenden Tür nachgelaufen ist, an deren Klinke der wackelige Milchzahn mit einem Faden festgebunden war.

Es gibt Dinge, über die ich nur mit meinen Geschwistern sprechen möchte. Weil ich weiß, dass sie mich ohne Vorrede verstehen, dass ich mich nicht erklären muss. Es gibt aber auch Dinge, über die ich nur mit meinen Geschwistern sprechen kann. Weil ich vor anderen Menschen nicht ansatzlos aus einem Kinderlied zitieren kann, das aus der Sicht einer Karotte vom Kochvorgang erzählt.

Gleichzeitig ist man bei seinen Geschwistern nicht nur echt, sondern auch verletzbar. Das bedeutet, dass sie einen provozieren können wie niemand sonst. Nie würde ich mich mit einem bärtigen Mann anlegen, der zwei Köpfe größer ist als ich. Ist dieser Mann allerdings mein kleiner Bruder und verkündet, dass er mich binnen Sekunden besiegen könnte, sieht die Sache anders aus. Dann beweise ich ihm unter Einsatz all meiner Kraft und Würde, dass er natürlich recht hat.

Es bleibt also vieles gleich, auch wenn sich alles ändert. Und wenn aus Kindern erst Erwachsene und dann Alte werden, passiert oft etwas Faszinierendes. Gegen Ende ihres Lebens rücken viele Geschwister wieder näher zusammen, sagt Werneck. Die Eltern sind tot, die Kinder ausgezogen, und auch die Lebenspartner hat man vielleicht bereits verloren. "Dann zieht man doch in die Nähe der älteren Schwester, die einen immer bemuttert hat. Und jetzt ist sie es, um die man sich kümmert."

Mein Handy summt, meine kleine Schwester hat mir ein Video auf Instagram geschickt. Es zeigt ältere Damen, die zu einer Hip-Hop-Hymne auf ihren E-Scootern die Straße hinunterfahren. Ihre weißen Dauerwellen flattern im Fahrtwind. "Wir in fünfzig Jahren?", schreibt sie dazu. Ich schicke ein Herz zurück. (Ricarda Opis, 9.7.2023)