In der Nacht von 28. auf 29. Juni wurden bei den Unruhen in Nanterre Feuerwerks­körper auf Polizeikräfte abgeschossen.
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Dienstag, 27. Juni. Die erste Meldung vom Tod eines 17-Jährigen im Pariser Vorort Nanterre geht an diesem Morgen weitgehend unter. Es ist nichts Neues: Allein im vergangenen Jahr kamen in Frankreich 13 Personen ums Leben, nachdem sie Anordnungen bei Polizeikontrollen nicht nachgekommen waren. Meist waren es junge Autofahrer, die abhauen wollten, weil sie keinen Führerschein hatten.

Auch in unserem Viertel fahren viele ohne "permis" herum. Mein Sohn, stolzer Führerscheinneuling, erzählt von Gleichaltrigen, denen die Fahrprüfung zu teuer war oder die sie nicht bestanden haben. Tatsächlich kurven 770.000 Französinnen und Franzosen führerscheinlos durchs Land, hunderte türmen bei Polizeikontrollen. Und ein paar bezahlen das mit ihrem Leben. Die Meldung aus Nanterre erregt daher wenig Aufmerksamkeit – vorerst.

Noch um 15.29 Uhr stellt ein deutscher Agenturjournalist im Whatsapp-Infodienst des Élysée-Palasts eine Detailfrage zum Besuch von Präsident Emmanuel Macrons in Deutschland. Doch dann gelangt das Video mit dem durchstartenden gelben Mercedes-Coupé in die sozialen Medien – und sofort ist Feuer am Dach.

Ich schaue mir die Szene immer wieder an, aber auch ein Video vermag nicht immer alle Fragen restlos zu klären. Wollte Nahel tatsächlich Fahrerflucht begehen – oder rutschte bloß sein Fuß vom Bremspedal des Elektroautos, weshalb es von selber anfuhr?

Mich beschleicht eine böse Vorahnung: In der Universitätsstadt Nanterre waren schon 1968 die Studentenunruhen losgegangen. Und auch jetzt ist Frankreich sozial äußerst angespannt: Die massiven Proteste gegen Macrons Pläne zur Pensionsreform haben bis heute kein echtes Ventil gefunden.

Mittwoch, 28. Juni

Die Morgennachrichten zeigen Bilder von den Ausschreitungen in Nanterre und in Nachbargemeinden. Meine Redaktion erkundigt sich, ob ich die Krawalle bei Paris "kommentieren und einordnen" könne – das Briefing zum Deutschland-Besuch Macrons lasse ich damit sein.

Mein Sohn zeigt mir ein Handyvideo vom Gefängnis in Fresnes, das in der Nacht mit Knallkörpern und Feuerwerksraketen richtiggehend eingedeckt worden ist. Fresnes ist einer unserer Nachbarorte, doch der Name steht vor allem für eine der ältesten, berüchtigtsten Haftanstalten im Großraum Paris. Meine Frau will nur wissen: "Haben sie Insassen befreit?" Nein, haben sie nicht. Unser Jüngster erhält die Erlaubnis, mit seinem Scooter allein in die Tennisstunde zu fahren.

Donnerstag, 29. Juni

Gegen drei Uhr in der Früh weckt uns der Lärm von Böllerschüssen. Auch das nichts Neues: In der nahen "cité" (Einwandererviertel) wird zum Ärger der Polizei alle paar Tage ein Feuerwerk veranstaltet. Das ist verboten, dennoch werden auf einschlägigen Internetkanälen "Römische Kerzen" oder, klarer benannt, "Gatling Riots" in weniger als einer halben Stunde frei Haus geliefert.

Wir sind eben wieder eingeschlafen, als vor unseren Fenstern ein Geräusch zu hören ist. Als zögen Touristen Rollkoffer hinter sich her. Ich schaue durch den Vorhang auf die Straße. Wie in einem Western marschieren drei schwarz gekleidete Männer nebeneinander auf der Mitte der Fahrbahn, jeder mit einem Müllcontainer auf Rädern im Schlepptau. Auch uns gegenüber bewegen sich die Vorhänge. Wir warten noch eine Zeitlang, hören dann aber nichts mehr.

Freitag, 30. Juni

Am Morgen zeigt sich, dass in unserer Straße ein Auto ausgebrannt ist – Polizei und Feuerwehr waren wohl anderweitig beschäftigt. Die städtischen Dienste schleppen das Wrack bald ab; es bleibt nur ein hässlicher Fleck auf dem verbrannten Asphalt. 2000 Autos sind in ganz Frankreich in dieser Nacht abgefackelt worden. Die Regierung verzwanzigfacht innerhalb eines Tages die Zahl der Einsatzkräfte landesweit. Ich fahre zum "Umzug für Nahel" in Nanterre. Der Chauffeur des Fahrtendienstes fragt: "Und? Wie sieht es in Ihrem Viertel aus?"

Samstag, 1. Juli

Eine Antwort darauf gibt es am nächsten Morgen, als unser Sohn aus der Bäckerei zurückkommt und berichtet, die Apotheke gleich daneben sei verwüstet worden. Ich gehe los, winke der Besitzerin der Apotheke im Ladeninnern zu, aber Madame T. sieht mich nicht. Sie gilt als gute Seele des Viertels, die die Bewohner der "cité" auch dann berät, wenn sie weder Geld noch Krankenversicherung haben. Noch unter Schock steht sie in der Mitte ihres geplünderten Geschäfts. Auch der kleine Sushi-Laden daneben hat keine Schaufensterscheiben mehr. Davor ein ausgebrannter Renault.

Beim Frühstück hat meine Frau weitere Neuigkeiten: Mouna, eine Bekannte aus Mali, die in der Parterrewohnung eines zehnstöckigen Wohnturms lebt, hat ihren Job als Türwächterin bei McDonald’s verloren, direkt oder indirekt wohl wegen der Krawalle. Zudem habe die sonst so fröhliche Frau ihren Sohn vor die Tür gesetzt, höre ich: Er habe am Dienstag sein "bac" (Matura) nicht bestanden und das zu allem Elend auch noch seiner Mutter verheimlicht. Mouna sei mit ihren Nerven am Ende, höre ich.

Jetzt übernachtet der 18-Jährige bei seinem getrennt lebenden Vater, der sich noch nie um ihn gekümmert hat. Ich würde gern fragen, ob der Bursche nicht in die Krawalle abzugleiten drohe – aber plötzlich piept mein Handy: In der Whatsapp-Gruppe der Élysée-Journalisten fragt eine Kollegin von der deutschen ARD, ob die Gerüchte stimmen, dass Macron seinen Deutschlandbesuch absagen werde. Minuten später kommt die Bestätigung: "Der Präsident der Republik wünscht, derzeit in Frankreich bleiben zu können", heißt es seltsam gestelzt. Die Einsatzpolizei wird noch einmal aufgestockt, auf 45.000 Kräfte landesweit.

Sonntag, 2. Juli

Erneut Morgennachrichten aus der nächsten Umgebung: Im Nachbarort L’Haÿ-les-Roses haben Unbekannte ein brennendes Auto in das private Wohnhaus des Bürgermeisters rollen lassen – im Versuch, einen Brand auszulösen. Der Bürgermeister selbst war nicht anwesend, seine Gattin und eines von zwei Kindern wurden aber auf der Flucht vor den Flammen verletzt.

Ich fahre mit dem Fahrrad in den Ort, spreche mit Anwohnern und stelle fest: Die Empörung hat über Nacht die Seite gewechselt. Hier sind nicht die "cités" wegen des Todes eines der Ihren wütend; vielmehr entrüsten sich die Menschen in den besseren Einfamilienhausvierteln über den Angriff auf "ihren" Bürgermeister, der Mitglied der konservativen Partei der Républicains ist.

Montag, 3. Juli

Brauchte es den "Mordversuch" (so die Staatsanwaltschaft) gegen den Bürgermeister von L’Haÿ-les-Roses, um die Wut der Randalierer einzudämmen? Zumindest beruhigt sich die Lage in unserem Pariser Vorort-Departement Val-de-Marne. Der Fieberschub, der Frankreich heimgesucht hat, wie er es seit der Revolution von 1789 in unregelmäßigen Abständen tut, klingt ab. Vor dem Rathaus von L’Haÿ-les-Roses trifft sich das bürgerliche, weiße Frankreich. Man stimmt die Marseillaise an, eine Dame neben mir ruft: "Résistance!" Menschen anderer Hautfarbe sind kaum zu sehen.

Wie auch generell im Fernsehen: Es wird eifrig ÜBER die Probleme in den städtischen Randzonen, den Banlieues, debattiert, aber nicht MIT deren Bewohnern. Den Eltern der Randalierer die Sozialbezüge streichen? In der Banlieue Teenie-Apps wie Tiktok blockieren, falls es wieder losgehen sollte? All das wird unter Ausschluss der betroffenen Eltern und Jugendlichen beraten.

Hier zeigt sich das Malheur der "cités": Diese unbekannten Territorien im eigenen Land interessieren nur, ja, sie existieren für das übrige Frankreich nur, wenn die Vorstadt-Kids wieder einmal Steine werfen. Werfen sie vielleicht deshalb Steine?

Müßige Frage. In unserer Straße ist es nach einer Woche wieder friedlich – bis zum nächsten Fieberschub. (Stefan Brändle aus Paris, 7.7.2023)