Vor nicht allzu langer Zeit war es noch üblich, dass Polizistinnen und Polizisten den Bezugsstatus zweier Personen abfragten.
Zeichnung: Armin Karner

Der heurige Sommer werde seit 2020 der erste ohne Einschränkungen wegen des Coronavirus sein, prophezeite der deutsche Virologe Christian Drosten im Jänner. Und siehe da – er irrte sich nicht! Landauf, landab ist in Sachen Virusinfektion inzwischen wieder Sorglosigkeit eingekehrt.

Überfüllte Bahnabteile, enge Flugzeugkabinen, volle Theatersäle und ebensolche Wirtsstuben, wenn es regnet, beunruhigen fast niemanden mehr. Wer in der U-Bahn eine Maske trägt, fällt auf. Das zeugt von einem großen kollektiven Aufatmen nach dreieinhalb unangenehmen Corona-Jahren.

"Es ist nicht vorbei"

Zwar gilt das nicht für alle. Wer etwa ein anfälliges Immunsystem habe, könne an der kollektiven Entspannung nicht wirklich teilhaben, sagt die Schriftstellerin Julya Rabinowich. Immunsupprimierte Menschen müssten sich jetzt auch, neben anderen Erregern, vor dem Coronavirus in Acht nehmen.

"Es ist nicht vorbei", meint Rabinowich. Weiterhin erkrankten Menschen an Corona – "und wie es zum Beispiel mit Long Covid weitergeht, ist schwer einzuschätzen". Auch könnten andere mögliche Folgeerkrankungen einer Covid-19-Infektion – Durchblutungsstörungen, Schlaganfälle, Diabetes – viel Leid verursachen und Druck auf das in den Pandemiejahren ohnehin ausgedünnte Gesundheitswesen ausüben.

Das aber kümmert die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht. Eine "neue Normalität" mit mehr Vorsicht aufgrund möglicher Infektionen, wie sie während der akuten Pandemie vorhergesagt worden war, existiert nicht. Vor wenigen Monaten kämpften wir noch mit einer Covid-Infektionswelle, nun scheint alles vergessen zu sein. Wie ist das möglich? Aus welchen Bedürfnissen speist sich diese Pandemie-Amnesie?

Wie nach der Spanischen Grippe?

Hier kommt ein Buch ins Spiel, das sich mit der vor Sars-CoV 2 letzten vergleichbar massiven Pandemie beschäftigt: mit der Spanische Grippe, die in den Jahren 1918 bis 1920 weltweit mehr als 50 Millionen Menschen das Leben kostete. Zum Vergleich: An Corona sind laut Weltgesundheitsorganisation WHO insgesamt mindestens 20 Millionen Menschen gestorben.

An der Zahl der Toten gemessen sei die Spanische Grippe "das größte Massaker des zwanzigsten Jahrhunderts" gewesen, schreibt die britische Wissenschaftsjournalistin und Autorin Laura Spinney in 1918 – die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. Dennoch sei diese Heimsuchung dem "kollektiven Vergessen" anheimgefallen. Das Ausmaß der Verheerungen habe man verdrängt – was unter anderem mit der "Gestalt" der Krise zu tun gehabt habe.

In 21 Kapiteln folgt Spinney den Infektionswellen, in denen das damalige Grippevirus durch die Welt zog. Sie erzählt vom Schicksal einzelner Grippebetroffener, ihrer Familien und Gemeinschaften und erläutert die Gegenmaßnahmen: eine umkreisende Schilderung, die, wie sie meint, dem Thema besser als eine lineare oder chronologische Handlungsabfolge gerecht wird.

Beinahe in Vergessenheit geraten: FFP2-Masken.
Zeichnung: Armin Karner

Überfallsartiges Massensterben

Die Seuche sei damals überfallsartig über die Menschen gekommen: "Die meisten Todesopfer der Spanischen Grippe gab es in den 13 Wochen zwischen Mitte September bis Mitte Dezember 1918." Das habe das Festhalten der Ereignisse sehr erschwert. Auch sei das Virus nach "vier langen Jahren des Ersten Weltkriegs" aufgetreten, dessen Folgen die Aufmerksamkeit der Menschen in weiten Teilen des Globus in Anspruch genommen habe. Mehr als ein Krankheitserreger, so tödlich er auch war.

Kann uns Spinneys Analyse helfen, die aktuell herrschende Corona-Vergessenheit zu verstehen? In großen Zügen vielleicht schon. Dass sich Covid-19 trotz erster strenger Lockdowns in China auf der ganzen Welt ausbreitete, war ein Schock. In unserer technologisch hochgerüsteten Welt griff eine Seuche unaufhaltsam um sich.

Wenig später wurden norditalienische Spitalsärzte interviewt, die fassungslos vom großen Sterben an der Infektion in ihren Krankenhäusern berichteten: Das Virus zerstörte die Lunge der Erkrankten. Es sollten noch etliche vergleichbare Schilderungen aus anderen Teilen der Erde folgen. Auch in Österreich erkrankten viele Menschen schwer an Covid-19 oder starben gar. Das machte Angst und überforderte die meisten, ganz so wie hundert Jahre davor.

Verdrängte Todesangst

"Die Menschen verdrängen ihre Angst. Es ist die Angst vor dem Tod", sagt dazu die Schriftstellerin Rabinowich. In der ersten Phase der Corona-Pandemie, als es weder Medikamente noch Impfungen gab, dürfte das Wegschauen geholfen haben, die Umstände besser zu ertragen. Die Mühen der darauffolgenden Jahre mit ihren wiederholten Lockdowns dürften den Wunsch nach möglichst raschem Vergessen dann weiter verstärkt haben.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann kann diese Reaktion gut verstehen: "Kein Mensch hat Interesse daran, sich an Dinge zu erinnern, die unangenehm waren", sagt er. Den zu Pandemiebeginn angestellten Überlegungen, dass Corona zum Umdenken zwinge oder dass alle lernen müssten "mit dem Virus zu leben", habe er gleich misstraut. "Der Wunsch, so zu leben, als gebe es das Virus nicht, war von Anfang an sehr stark zu spüren."

Vergangene Seuchen

Die Geschwindigkeit, mit der Corona nun vergessen werde, erklärt der Philosoph mit dem Auftauchen vieler weiterer Herausforderungen: "Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation, Klimaaktivismus: Die Krisenkonfrontationskapazität des Menschen ist beschränkt", sagt er. Vergleichen mit der Zeit der Spanischen Grippe steht er distanziert gegenüber. Die Welt von heute sei ziemlich anders als jene von vor 105 Jahren. "Erkenntnisse über Krankheitserreger, die heute selbstverständlich sind, wurden damals erst gemacht."

Dafür hätten die Menschen in Europa 1918 noch Erinnerungen an große Seuchen gehabt, etwa an die Cholera. Corona hingegen habe in den reichen Regionen der Welt eine im Umgang mit Infektionskrankheiten entwöhnte, aber wissenschaftlich fortgeschrittene Gesellschaft getroffen.

Die meisten wollen nicht auf die Pandemie zurückblicken.
Zeichnung: Armin Karner

Vom Luxus des Vergessens

Genau dieser wissenschaftliche Kenntnisstand ist nun aber mit die Grundlage für das rasche Vergessen der Corona-Pandemie. "Mit den Impfungen und den Medikamenten stehen uns jetzt, nachdem die WHO den Covid-Gesundheitsnotstand für beendet erklärt hat, die Mittel zur Verfügung, um mit Corona so wie mit anderen respiratorischen Infektionskrankheiten umzugehen", sagt der Komplexitätsforscher Peter Klimek.

Die Rückkehr zu einer Normalität wie davor bringe aber auch Risiken mit sich, betont der Experte. Schon während der Pandemie habe die Bereitschaft, Lehren für die Zukunft zu ziehen, zwischen der Infektionswellen jeweils schlagartig abgenommen. "Dabei sollten wir uns weltweit auf kommende Pandemien vorbereiten. Dass es sie geben wird, ist infolge des Klimawandels wahrscheinlicher geworden." Insofern, sagt Klimek, sei es "ein Luxus, Corona einfach zu vergessen". (Irene Brickner, 7.7.2023)