US-Präsident Joe Biden.
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Washington/Bern/Genf - Die US-Regierung will der Ukraine umstrittene Streumunition liefern und verteidigt sich gegen Kritik an diesem Schritt. "Dies ist ein Krieg, der mit Munition zu tun hat. Und die Munition geht ihnen aus, und wir haben nur noch wenig davon", sagte US-Präsident Joe Biden in einem CNN-Interview, das am Freitag in Teilen veröffentlicht wurde. Deshalb habe er schließlich eine Empfehlung des Verteidigungsministeriums angenommen. Moskau sprach von einer weiteren Eskalation.

Streumunition werde "nicht dauerhaft, sondern für eine Übergangszeit" geliefert, bis die USA wieder in der Lage seien, mehr von der benötigten Artillerie zu produzieren, so Biden. "Es ist eine schwierige Entscheidung. Es ist eine Entscheidung, die wir aufgeschoben haben. Es ist eine Entscheidung, die einen wirklich harten Blick auf den potenziellen Schaden für die Zivilbevölkerung erforderte", hatte bereits zuvor der nationale Sicherheitsberater von Biden, Jake Sullivan, im Weißen Haus gesagt.

Russland sieht "Geste der Verzweiflung"

Russland bezeichnete die von den USA angekündigte Lieferung von Streumunition an die Ukraine als weitere Eskalation im Krieg. "Washington erhöht seinen Einsatz in dem Konflikt weiter", sagte der russische Botschafter in den USA, Anatoli Antonow. Die USA seien so besessen von der Idee, Russland eine Niederlage zuzufügen, dass sie die Schwere ihrer Handlungen nicht berücksichtigten, sagte Antonow. Die Lieferung von Streumunition sei eine "Geste der Verzweiflung", mit der die USA und ihre Verbündeten ihre Impotenz an den Tag legten. 

Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj dankte hingegen für die neue Militärhilfe. "Ein rechtzeitiges, umfassendes und dringend benötigtes Verteidigungshilfspaket der Vereinigten Staaten", teilte Selenskyj am Freitagabend bei Twitter mit. Er hielt sich in Istanbul zu Gesprächen mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan auf. 

Nato-Beitritt der Ukraine "unrealistisch"

Die Ankündigung der USA kam kurz vor dem Nato-Gipfel in der kommenden Woche. US-Präsident Joe Biden hielt einen raschen Beitritt der Ukraine zur Nato für unrealistisch. "Ich glaube nicht, dass sie für die Mitgliedschaft in der Nato bereit ist", sagte Biden im CNN-Interview. Er glaube, es gebe unter den Nato-Mitgliedstaaten noch keine Einigkeit darüber, ob man die Ukraine "jetzt, mitten im Krieg", in das Bündnis aufnehmen solle oder nicht. Wenn man das täte, sei man auch verpflichtet, jeden Zentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen. Wenn der Krieg dann weiterginge, befänden sich alle Nato-Partner im Krieg.

Als Streumunition werden Raketen und Bomben bezeichnet, die in der Luft über dem Ziel bersten und viele kleine Sprengkörper - sogenannte Submunition - verstreuen oder freigeben. Streumunition ist vor allem deswegen umstritten, weil ein erheblicher Prozentsatz ihrer Sprengkörper nicht detoniert, sondern als Blindgänger vor Ort verbleibt und so die Bevölkerung auch nach Ende eines Gefechts noch gefährdet. Deutschland ist wie mehr als 100 weitere Staaten einem Vertrag zur Ächtung von Streumunition beigetreten - dem sogenannten Oslo-Übereinkommen. Die USA haben das Abkommen ebenso wie die Ukraine und Russland nicht unterzeichnet.

Details unter Verschluss

"Russland hat seit Beginn des Krieges Streumunition eingesetzt, um die Ukraine anzugreifen", betonte Sullivan. Er sagte mit Blick auf eine Frage zu Deutschlands Haltung, dass es keine "Risse" in der Einheit der Nato gebe. "Ganz im Gegenteil: Wir glauben, dass es ein tiefes Verständnis innerhalb des Bündnisses gibt."

Die deutsche Bundesregierung hatte am Freitag mit Blick auf die Pläne der US-Regierung Verständnis für den Schritt signalisiert. "Wir sind uns sicher, dass sich unsere US-Freunde die Entscheidung über eine Lieferung entsprechender Munition nicht leicht gemacht haben", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Das Pentagon betonte, man werde der Ukraine nur Streumunition mit niedriger Blindgängerrate liefern. Kiew habe außerdem zugesichert, die Geschosse nicht in dicht besiedelten städtischen Gebieten einzusetzen und festzuhalten, wo die Munition zum Einsatz komme.

800 Millionen Militärhilfe

Die Streumunition ist Teil eines neuen Militärhilfe-Pakets in Höhe von 800 Millionen US-Dollar (rund 729 Mio. Euro). Die Vereinigten Staaten gelten als wichtigster Verbündeter der Ukraine im Abwehrkampf gegen die russische Invasion. Nach Pentagon-Angaben haben die USA seit dem Kriegsbeginn Ende Februar 2022 militärische Hilfe im Umfang von mehr als 40 Milliarden US-Dollar für Kiew bereitgestellt oder zugesagt. Kritik an der Entscheidung der US-Regierung, der Ukraine Streumunition liefern zu wollen, kam am Freitag etwa auch von Handicap International, das die Auswirkungen auf Zivilisten ins Treffen führte. (APA, 8.7.2023)