Sergei Diaghilew hatte einen Wutausbruch. Dabei soll der Impresario der legendären Ballets Russes auf Picassos kubistischen Entwürfen für das Ballett "Pulcinella" herumgetrampelt sein. Außerdem brachte ihn Igor Strawinskis Musik aus der Fassung.

Genau diese Komposition steht im Mittelpunkt des Stücks "Relative Calm" der New Yorker Choreografin Lucinda Childs (83) in der Ausstattung von Robert Wilson (81). Die Österreichpremiere zum Auftakt der diesjährigen Ausgabe von Impulstanz erntete am Freitag begeisterten Applaus im vollbesetzten Volkstheater.

Relative Calm beim Impulstanz-Festival.
Lucie Jansch

Die Tänzerinnen und Tänzer des römischen MP3 Dance Project unter der Leitung von Michele Pogliani brachten Childs’ choreografische Handschrift auf den Punkt: Diese besetzt eine ganz eigene Position zwischen Merce Cunninghams ans Ballett angelehntem Modernismus und der Lockerheit jener Postmoderne, die teils experimentierfreudig, teils beliebig alles Mögliche vermischt. Und Wilson beweist erneut, dass er kein bisschen von seiner szenografischen Klasse eingebüßt hat.

Drei Akte

"Relative Calm" setzt sich aus drei Akten zusammen: Strawinskis "Pulcinella"-Komposition von 1920 steht zwischen Jon Gibsons Musik "Rise" und John Adams’ "Light Over Water", beides minimalistische Werke aus der 1980er Jahren. Eine fantastische Rahmung, weil Strawinskis Schocker für Diaghilew eine neoklassizistische Arbeit auf Basis von Kompositionen des 18. Jahrhunderts ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Impresario genug von dem modernen Zeug der vorangegangenen Jahre und wollte etwas Historisches machen. Doch weder Picasso noch Strawinski, der aus den von Diaghilew eingebrachten alten Commedia dell’arte-Vorlagen einfach sein Ding machte, noch der Choreograf Léonide Massine spielten mit.

Die ursprüngliche Version von "Relative Calm" entstand 1981, zu sehen ist nun eine Neufassung.
Lucie Jansch

Jetzt, ein Jahrhundert später, wächst das Bedürfnis, sich künstlerisch von der bis zum letzten Tropfen ausgelutschten und moralinsauer gärenden Postmoderne zu emanzipieren. Anstatt wie Diaghilew in eine verklärte Vergangenheit zu flüchten, greifen Childs und Wilson auf ihre großen Referenzpools zu und entwerfen mit dieser Neufassung – die ursprüngliche Version von "Relative Calm" entstand 1981 – einen zukunftsträchtigen Vorschlag zur Neuorientierung.

Utopische Räume besetzen

Dahinter steckt kein großer Zauber: Es geht nur darum, historisches Material unter veränderten Bedingungen neu und anders auszutesten. So haben auch die historischen Avantgarden gearbeitet. Childs setzt ihr Stück in Verbindung mit Debatten der Gegenwart wie die Geschlechterdiskussion – ihr glatzköpfiger Pulcinella ist weiblich –, abgehobenes Narrentum, anschwellende Aggressionspegel und das Umweltthema.

Gemeinsam mit Wilson lässt sie die Tänzerinnen und Tänzer utopische Räume besetzen. Die Figuren in diesen von farbintensiven grafischen Strukturen bestimmten Umgebungen bleiben hoch aufgerichtet, die Frauen um eine Spur lässiger als die Männer.

"Ich fühle, wie die Erde erstickt. Die Erde erstickt. Sie macht Erdbeben."
Lucie Jansch

In zwei kurzen Zwischenakten tritt die Choreografin selbst als pulcinellahafter Vaslav Nijinsky auf und zitiert aus den Tagebüchern des Jahrhunderttänzers, unter anderem: "Ich fühle, wie die Erde erstickt. Die Erde erstickt. Sie macht Erdbeben." Dabei jagt im ersten schwarzweißen Hintergrundvideo in extremer Zeitlupe ein Gepard dahin, im zweiten donnert eine Herde Gnus durch die Savanne.

Das Stück verbindet symbolisch stark aufgeladene Bilder mit ironischer Stilisierung, die Ästhetik der 1980er Jahre mit jener der Gegenwart. Digital Natives fühlen sich etwa bei Robert Wilsons grafischen Projektionen, speziell einem sich langsam zeichnenden Kreis, an zirkulierende Computer-Ladebalken erinnert.

De facto ist "Relative Calm" eine utopische Arbeit über die Möglichkeiten einer Ausbalancierung der durch ihre Hybris aus dem Tritt geratenen Großkulturen von heute. Childs, Wilson und das Tanzensemble strahlen eine souveräne ästhetische Haltung aus, die keine Didaktik braucht, weil sie auf ein mündiges Publikum vertraut. (Helmut Ploebst, 8.7.2023)