Rund zwei Wochen nach Jewgeni Prigoschins Marsch auf Moskau sind viele Fragen offen. Eine davon betrifft die Zielsetzung: War es eine begrenzte Revolte oder ein auf das ganze Herrschaftsgefüge zielender Putschversuch? Das Zurückscheuen des Söldnerführers vor direkter Kritik an Präsident Wladimir Putin spräche für begrenzte Ziele, wie die Entmachtung von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und die Verhinderung der staatlich angeordneten Unterstellung der Wagner-Söldner unter diesen. Hingegen deuten Prigoschins Widerspruch gegen das offizielle Kriegsnarrativ, aber auch der Marsch selbst Letzteres an.

Wladimir Putin
Sein Image als "Garant der Stabilität" in Russland wurde weiter angekratzt: der russische Präsident Wladimir Putin.
Imago / Sergei Guneyev

Indem Putin, dessen Flugzeug auf dem Höhepunkt der Ereignisse Moskau verließ, diese in seiner Ansprache am 24. Juni als "Verrat" bezeichnete, ließ er Prigoschin keinen Spielraum für Machtpoker. Mangels Unterstützung durch die Armee scheiterten die 5.000 Meuterer, die Rostow besetzt, mehrere Flugzeuge abgeschossen hatten und bis 200 Kilometer vor Moskau marschiert waren. Das Einschalten des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko ermöglichte allen einen gesichtswahrenden Ausweg.

Obwohl viele in Russland den Präsidenten für die "friedliche" Beilegung der Krise loben, ist die Diskrepanz zwischen seiner Ansprache und dem Resultat offenkundig. Der Aufstand hat auch Versagen in Armee und FSB offengelegt. Ferner war der vom Kriminellen zum "Oligarchen" aufgestiegene Prigoschin ein langjähriger Günstling des Kremls. Zudem hat erst der Angriffskrieg gegen die Ukraine die Bedingungen für den Aufstand geschaffen. Die vom Kreml als Herrschaftsinstrument vorangetriebene Entpolitisierung der Gesellschaft wirkt sich mittlerweile nicht nur zum Vor-, sondern auch zum Nachteil des Regimes aus: Anders als 1991 ging kaum jemand gegen den Aufstand auf die Straße – im Gegenteil.

Stachel im Fleisch

Die Bilanz der Ereignisse ist somit vorläufig ambivalent. Das bei vielen noch vorhandene Image des Präsidenten als "Garant der Stabilität" wurde weiter angekratzt; gleichzeitig konnte er durch die Vermeidung von Blutvergießen punkten und seine Machtposition behaupten. Während die Zustimmung zu Prigoschin laut Portal Medusa von 60 auf 29 Prozent eingebrochen ist, blieb jene Putins, wie unter den inneren Bedingungen nicht überraschend, konstant hoch. In der Gunst verloren hat auch der Verteidigungsminister. Er kann aber aufatmen, mit Prigoschin einen Stachel im Fleisch losgeworden zu sein. Die Kontrolle über die Armee wird verstärkt. Die Nationalgarde erhält schwere Waffen und der Geheimdienst weitere Aufgaben. Der Geheimdienstgeneral und Gouverneur von Tula Alexei Djumin hat als Troubleshooter Punkte für seine weitere Karriere gewonnen. Der oft als weiterer potenzieller Nachfolger genannte Agrarminister Dmitri Patruschew ist nicht in Erscheinung getreten. Die Zukunft Prigoschins, gegen den in Russland ermittelt wird, ist unsicher.

Lukaschenko kann sich als Vermittler feiern und in Zukunft möglicherweise auf tausende Söldner in seinem Land zurückgreifen. Die für verdeckte Militäroperationen gegen die Ukraine gegründete und zuletzt bis nach Afrika aktive "private Militärfirma" Wagner wird filetiert. Ähnlich wohl das Imperium Prigoschins mit angeblich 400 Versorgungs-, Propaganda-, Troll- und sonstigen Betrieben. Die jahrelange Kreml-Charade, dass Wagner, dem zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, ein vom Staat unabhängiges Unternehmen sei, ist entlarvt.

Ist dies das Ende des Regimes Putin? Nein, aber ein Anzeichen von deutlicher Instabilität. Monokraten profitieren vom Zwist in der zweiten Reihe, aber nur, wenn er nicht zu einem Aufstand auswächst. Im Hintergrund nimmt die Elitenloyalität meist mit einer gewissen Amtsdauer und wachsenden Misserfolgen ab. Die finnische Außenministerin Elina Valtonen hat jüngst formuliert, dass Diktaturen so lange äußerlich stabil scheinen, bis sie zusammengebrochen sind. Oder wie der Historiker Alexei Yurchak über die späte Sowjetunion geschrieben hat: "Alles war für immer, bis es nicht mehr war."

Keine offenen Anzeichen

Wann das Ende des Regimes eintritt, weiß derzeit niemand. Nach 23 Jahren hat seine von Krieg, Repression und Instabilität geprägte Spätphase längst begonnen. Einen Nachfolger (wie bisher der Fall) als (Vize-)Regierungschef aufzubauen wäre für die Wahl 2024 jedoch relativ spät. Auch gibt es noch keine offenen Anzeichen dafür, und jeder Machtwechsel birgt Risiken für die Eliten. Ob ein künftiger Machtwechsel einen Kurswechsel bringt, wird vom Zustand abhängen, in dem sich das Land und seine Eliten dann befinden. Prigoschins Aktion wird als spektakuläres Detail und Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in Erinnerung bleiben, als Indiz für das Übergreifen des gesäten Sturmes auf sein Herkunftsland. Der Westen wird sich darauf einstellen, dass dieser noch nicht zu Ende ist. (Wolfgang Mueller, 10.7.2023)