Zum ORF-Beitrag von allen ab 2024 hat Generaldirektor Roland Weißmann einen "ORF für alle" ausgerufen. Und der per Gesetz als Kultur- und Informationssender definierte Spartensender ORF 3 ruft zum unmoderierten Bürgerinnen- und Bürger-Talk am "Stammtisch". Das Format sorgte ORF-intern nach STANDARD-Infos schon vor der Ausstrahlung für Diskussionen, einzelne Aussagen wurden demnach auf Drängen von Journalistinnen und Journalisten schließlich geschnitten. Als ein Diskussionsteilnehmer auf die "gerade stattfindende große Entmündigung" zu sprechen kommt, bricht der Wirt in der gesendeten Fassung rasch ab. 

"Jetzt red' I" – die Neuauflage des unmoderierten ORF-3-Stammtischs am Montagabend.
ORF 3 Screenshot

Es ist wieder da

Der unmoderierte ORF-3-Stammtisch wurde als neues Diskussionsformat – "Jetzt red' I – der ORF 3 Stammtisch" – angekündigt, aber zuvor schon einmal erfunden: 2019 hat ihn die damalige ORF-3-Chefredakteurin Ingrid Thurnher im STANDARD-Interview angekündigt und nach der ersten Folge bald wieder verräumt. Die erste Ausgabe im März 2019 verfolgten nach damaligen Infos im Schnitt 28.000 Menschen, auch für ORF 3 kein Grund, eine Eigenproduktion fortzusetzen.

Montagabend mühte sich Gregor Weiss redlich und höflich um ein Gespräch, der selbstständige Kunstmanager hat etwa schon André Hellers Kunstgarten "Anima" vor Marrakesch umgesetzt. Man debattierte munter vom Klimawandel zu Corona und zurück an diesem Stammtisch. Man kam zwischendurch überein, Asylsuchende sollten arbeiten dürfen und nicht, wenn gut integriert, abgeschoben werden. Und man plauderte über die skurrile Vorsitzendenwahl der SPÖ, überlegte, ob Andreas Babler in ganz Österreich ankommen kann. 

Wirt Patrik Rafael scherzt und zündelt dazwischen, "Rauch dir eine an!", animiert er – oder blafft zu Covid-19: "Und die Maske hat geholfen? Ich hab nur einen Ausschlag gekriegt." Bei ihm reden zudem, nicht immer ganz verständlich und überlagert von summender Wirtshausatmosphäre, zudem: Bäuerin Helga Bernold aus dem Weinviertel, Pensionist Johann Hofer, Pensionistin Suzanne Gundhacker aus Favoriten und, laut ORF-Ankündigung, "Tausendsassa" Peter Graf. Croupier etwa war er schon, sagt das Insert. 

Es könnte gut sein, dass Graf zu jenen 25 Prozent der Menschen in Österreich gehört, die derzeit laut ORF-Befragung weniger oder gar nicht wichtig finden, dass es öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt. Auch Pensionist Johann Hofer könnte man vielleicht in dieser Gruppe antreffen, vielleicht auch andere Menschen an diesem Stammtisch. 

Graf sieht CO2 als "Gas des Lebens, nicht des Todes", den Klimawandel aber menschengemacht, bei den Corona-Maßnahmen habe es keinen Diskurs gegeben, nur der "Mainstream" sei gehört worden. "Es gibt nicht die Wissenschaft, Wissenschaft ist immer ein Diskurs", sagt er. Panik sei da geschürt worden. 

"Wir wissen nix"

Bäuerin Bernold hat Corona wenig betroffen auf ihrem Hof im Weinviertel, quasi wie auf einer Insel. Sie vermisst eine ganzheitliche Perspektive auf die gesellschaftlichen Probleme: Der Wiederaufbau nach dem Krieg in der Ukraine mit naturgemäß großem Zementeinsatz werde ein gewaltiges CO2-Problem, "da kann ich mit meinem Dieseltraktor lang im Kreis fahren". Die "heilige Kuh Wirtschaft" ist ihr ein Dorn im Auge, viele mit viel öffentlichem Geld geförderte Unternehmen seien denn doch pleitegegangen. 

Spät kommt der viermal Covid-geimpfte Pensionist Hofer ausführlicher zu Wort und in Fahrt, zitiert ausführlich Goethes "Faust", um seine These zu untermauern: "Einen Scheißdreck weiß die Forschung." "Mit welchem Dreck sich die beschäftigen", staunt er, Wissenschaft produziere "Binsenweisheiten" und "Scheißdreck". "Denen gehört Schaufel und Krampen in die Hand gegeben", findet der Pensionist. Komplexitätsforschung dient ihm hier als Beispiel, der Anspruch von Forscher Peter Klimek sei "ein Scheißdreck". Oder die Krebsforschung: "Was wissen sie? Einen Scheißdreck."

Helga Bernold stimmt ohne Kraftausdrücke ins Thema Unwissen ein mit: "Wir wissen in der Medizin nix, wir wissen in der Biologie nix." Peter Graf ist am Zug: "Ist es nicht so, dass wahnsinnig viel Wissen verloren gegangen ist, (...) oder wir es nicht wissen wollen?" Das Wollen liefert nun einen schönen Einsatz für den Wirt: "Willst an Kaffee?"

"Große Entmündigung"

Jeder müsse für sich selbst entscheiden, sagt Bernold, und meint in diesem Fall nicht die Wahl von Getränken, sondern eher Gesundheitsfragen, bei denen war man zumindest zuvor gerade. Da sind wir wieder beim "normalen Menschen", konstatiert Graf und sagt: "Nur findet gerade die große Entmündigung statt." 

An dem Punkt schreitet, jedenfalls in der am Montag ausgestrahlten Version, der Wirt ein, fragt nach der letzten Runde, lehnt Wasser ab, "das gibt's am Klo", ruft zum Austrinken der servierten Getränke auf, und schon ist recht abrupt Schluss mit der Sendefassung. 

Was wurde – nach inoffiziellen Informationen aus dem ORF – herausgeschnitten? Ein Beispiel wurde dem STANDARD zugetragen: Handystrahlung, die CO2 aufwirble, soll samt angeblicher Folgen am Stammtisch besprochen worden sein, aber dann auf Drängen von Redakteurinnen und Redakteuren des ORF mit Hinweis auf öffentlich-rechtliche Verantwortung nicht gesendet.

Wenn davon tatsächlich die Rede war bei "Jetzt red' I": Es war auch ohne die Handystrahlung ein bunter Abend, von ORF 3 umrahmt mit "Alltagsgeschichten" von Elizabeth T. Spira. 

"Jetzt red' I" gibt es seit den 1970ern im Bayerischen Rundfunk als Bürgerinnensendung im Hauptabend, die über Jahrzehnte durch Gasthäuser tingelte und jetzt monothematisch aus einem mobilen Studio kommt. Sie wird aber moderiert und konfrontiert Politikerinnen und Politiker mit Kritik und Anliegen von Bürgerinnen und Bürgern. (fid, 11.6.2023)