Ein Bild des Schriftstellers Milan Kundera mit einer Zigarre in der Hand vor einem Gemälde.
Dieses Foto von Milan Kundera wurde ein Jahr vor seinem Durchbruch 1969 aufgenommen.
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Der große Milan Kundera ist tot. Der französisch-tschechische Weltbürger unter den Literaten des 20. Jahrhunderts verstarb am Dienstag im Alter von 94 Jahren, wie tschechische Medien am Mittwoch berichten. Spätestens mit seinem internationalen Bestseller "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" schrieb sich der am 1. April 1929 in Brünn geborene Autor in die Weltliteratur ein.

Milan Kundera im hohen Alter.
Der Schriftsteller wurde 94 Jahre alt.
AFP/MIGUEL MEDINA

Die "Tragödie Zentraleuropas" beschrieb der tschechische Autor und Weltliterat Milan Kundera bereits 1983. Im gleichnamigen Essay, damals auf Englisch und Deutsch erschienen, nahm der 1975 nach Frankreich ausgewanderte Kundera eine maßgebliche Unterscheidung vorweg.

Er hob – als gebranntes Kind des Kommunismus – darin die westliche, vor allem aber die "zentraleuropäische" Kultur strikt von der "russischen Zivilisation" ab. Letztere kennzeichnete er, ihrem Wesen nach, als despotisch und orthodox. Kundera, ein geistiger Spross des Prager Frühlings, nannte "die Zivilisation des russischen Totalitarismus" die "radikale Negation des Westens". Und weil er, bei aller Freude über die wiedergewonnene persönliche Freiheit, in seiner Polemik die Geschichtsvergessenheit des Westens herausstrich, fällt es gerade heute schwer, sich nicht an Putin und dessen verheerenden Angriff auf die Ukraine erinnert zu sehen.

Kundera, Brünner Sohn eines Musikers und Janáček-Schülers, besaß jedes Recht, gegen den Machtblock im Osten zu polemisieren. Seine eigene Herkunft als Jazzmusiker und Dozent für Weltliteratur an der Prager Filmfakultät war von der Dynamik allmählicher Loslösung bestimmt.

Desillusionierung durch Panzerketten

Frühe lyrische Werke entstanden noch nach den Maßgaben strikter Parteilichkeit: gegen die teils stupiden Vorschreibungen des Sozialistischen Realismus gerichtet, aber noch fest verankert im marxistischen Weltbild. Auf die jähe Desillusionierung durch die mit Panzerketten klirrende Beendigung des Prager Frühlings im Jahr 1968 folgte ein Abschied auf Raten: sorgfältig orchestriert durch Schikanen, die die Zwangsmacht gegen alle Idealisten aus ihren eigenen Reihen richtete.

Kundera war bereits ein – notabene französischer – Romancier von Weltformat geworden, als er sich und andere an die Widerstandszeit erinnerte. An die "Schönheit" der Oppositionszeit, an die damalige "glückliche Vereinigung von Kultur und Leben", an den "Elan" und die "unnachahmliche Aura" der Aufstände gegen die Sowjetmacht.

Und so gehört zu Kunderas Vermächtnis das tapfere, literarisch atemberaubende Einbekennen eines doppelten Ungenügens: Erst unterrichtete der Dichter in Rennes; ab 1978 lebte er in Paris, wo er eine Professur für Komparatistik und Romantheorie übernommen hatte. Fortan wurde Kundera nicht müde, sein ganzes Unglück im Westen zu betonen: als leichtfüßiger Romancier, der über Techniken wie den Perspektivenwechsel gebot und geradezu unverantwortlich Esprit und Witz versprühte.

"Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" (1984) machte Milan Kundera schlagartig auf der ganzen Welt berühmt. Die Verfilmung, drei Jahre später, mit Philip Kaufman, Juliette Binoche und Daniel Day-Lewis bewirkte eine weitere Mehrung seines Ruhms. Die Aberkennung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft 1979, nach Publikation des "Buches vom Lachen und Vergessen", tat ein Übriges, um ein Ungenügen, ein nagendes Gefühl der Entwurzelung und Desillusionierung wirksam zu unterfüttern.

Gegen Konsumismus und Künstlichkeit

Werke wie "Die Identität" (1995) und "Die Unwissenheit" (2000) verfügen über enormen Feinschliff – und über eine Musikalität, die ihresgleichen sucht: Da hatte Kundera bereits begonnen, auf Französisch zu schreiben, um in Fußstapfen zu treten, die ein Riese wie Vladimir Nabokov hinterlassen hatte. Liebe und Entfremdung bildeten in seinem Spätwerk ein gedankliches Doppelpaar, dessen Hälften aufeinander verweisen. Die westeuropäische Zivilisation blieb Kundera weiterhin fremd: Er, der ihre Freiheitsversprechen wortwörtlich nahm, wollte sich mit Konsumismus und Künstlichkeit, den Übeln in ihrem Schlepptau, keineswegs abfinden.

2008 wurde Kundera noch mit Spitzelvorwürfen aus seiner systemkonformen Früh- und Jugendzeit bedrängt. Er wischte sie glaubhaft vom Tisch. Sein später Roman "Das Fest der Bedeutungslosigkeit" (2015) lässt sich als trotzig-höhnischer Kommentar der Affäre deuten. Kundera, in seiner Heimat seit langem wieder wertgeschätzt, ist jetzt 94-jährig in Paris gestorben. (Ronald Pohl, 12.7.2023)