Ulrich Brand und Gabriel Eyselein – beide im Bereich Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien – schreiben in ihrem Gastkommentar, warum das EU-Mercosur-Abkommen aus Sicht Südamerikas nicht gut ist.

Die sozialdemokratischen Präsidenten Argentiniens und Brasiliens scheinen den aktuellen Verhandlungsprozess um das EU-Mercosur-Abkommen vorläufig gestoppt zu haben. Alberto Fernández moniert, dass ein solcher Deal Südamerika als "ewigen Rohstofflieferanten degradiert". Sein brasilianischer Kollege Lula da Silva meldet schwere Bedenken an und nennt ihn gar "inakzeptabel". Europäische Staats- und Regierungschefs sowie Kommissionsmitglieder entwickelten in den letzten Wochen eine intensive Reisetätigkeit in die Region. Doch trotz der europäischen Charmeoffensive muss das Abkommen 24 Jahre nach Beginn der Verhandlungen weiter auf den Durchbruch warten. Das eröffnet den Raum, um nochmal grundlegend zu überdenken, wie ein Handelsabkommen aussehen müsste, das den Herausforderungen des 21. Jahrhundert gerecht wird.

Klima Umwelt Handel Rohstoffe
Trauriger Blick auf dieAmazonaswälder.
APA/AFP/MICHAEL DANTAS

Wir erinnern: Seit 1999 verhandelt die EU mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay über ein Handelsabkommen. Zollsenkungen und der Abbau von Handelsrestriktionen stehen im Vordergrund und sollen den Warenhandel zwischen den zwei Regionen ankurbeln. Die EU-Kommission hoffte nach jüngeren Verhandlungen auf einen Durchbruch beim EU-Lateinamerika-Gipfel Mitte Juli in Brüssel.

Negative Auswirkungen

Teile der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft wiesen beständig auf die negativen sozialen sowie ökologischen Auswirkungen eines solchen Abkommens hin und mahnten strenge Richtlinien an. Immer wieder wurde argumentiert, dass das Abkommen zu einer Ausweitung der Rinderhaltung oder des Sojaanbaus und damit zu einer weiteren Abholzung des Amazonas führen würde. Seit der Plan der Kommission publik geworden ist, das Abkommen zu splitten und damit Teile der Mitbestimmung durch nationale Parlamente zu entziehen, regten sich zudem starke demokratische Bedenken, die durch die mangelnde Transparenz der Verhandlungen genährt werden. Das Ziel eines solchen Splittings ist, die Verabschiedung des Abkommens zu beschleunigen, da die Veto-Haltungen im EU-Rat zum Beispiel von Österreich oder Frankreich übergangen werden könnten.

Doch um was geht es eigentlich? Hinter dem Abkommen stehen geopolitische Verschiebungen. So warb Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission, in einem STANDARD-Gastkommentar für das Abkommen. Er sieht in seiner Verabschiedung ein strategisches Gebot in Anbetracht der geopolitischen Konkurrenzsituation mit China und Russland. In eine ähnliche Kerbe schlagen Industrievertreter, die sich angesichts der Weltmarktkonkurrenz lautstark für die Ratifizierung des Abkommens einsetzten. Die argumentative Linie lässt sich dabei wie folgt lesen: Entweder die EU schließt jetzt ein Handelsabkommen mit den Mercosur-Ländern ab, oder man überlässt China das Feld. Insofern saß und sitzt bei den Verhandlungen mit den Delegierten der Mercosur-Länder immer eine dritte, unsichtbare Partei mit am Tisch: China. Doch China ist in Lateinamerika längst präsent.

Große Abhängigkeit

Der russische Angriffskrieg hat der EU zudem ihre Abhängigkeit von Gasimporten aus Russland sowie von Rohstoffimporten, insbesondere aus China, brutal vor Augen geführt. Die Mercosur-Staaten gelten als potenziell wichtige Partner, um die Rohstoffversorgung zu diversifizieren und zu sichern – insbesondere für die Energiewende. Die EU folgt dabei dem Primat der Versorgungssicherheit, notfalls zulasten der Rohstoffexporteure im Globalen Süden. Ausgeblendet werden so die hohen sozial-ökologischen Risiken der Gewinnung der Rohstoffe: Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und Gewalt.

In der Argumentation der EU schwingt nicht nur ein neokolonialer Unterton mit, der die Mercosur-Staaten auf ihre Rolle als unverarbeitete Rohstofflieferanten in der internationalen Arbeitsteilung reduziert und die drohende Reprimarisierung ausblendet. Sie verschleiert auch, welche Industrie der Haupttreiber des prognostizierten Mehrbedarfs an Rohstoffen ist: Bis zu 60 Prozent der Nachfragesteigerung nach kritischen Metallen geht auf die Automobilindustrie – inklusive E-Autos – zurück.

Machen wir uns also nichts vor. Bei der erwähnten Charmeoffensive der europäischen Politik geht es weniger um das Gewinnen von Verbündeten, sondern um billige Rohstoffe, die Sicherung von Absatzmärkten und Profitinteressen. Vom vorgeschlagenen Abkommen würden so primär große transnationale Konzerne profitieren, in Europa zum Beispiel die Auto- oder Chemiebranche und in den Mercosur-Ländern Agrar- und Bergbaukonzerne.

Nun könnte es also zu einer politischen Denkpause kommen und die zentrale Frage diskutiert werden: Wie kann ein Handelsabkommen aussehen, das ein gutes Leben für alle Menschen ermöglicht sowie Natur und Klima nicht ruiniert?

Das EU-Mercosur-Abkommen atmet zu sehr noch den Geist des 20. Jahrhunderts: ein Mehr an Exporten von Autos und Pestiziden und ein Mehr an Importen von billigem Fleisch und Rohstoffen. Doch heute muss das Wachstumsparadigma überdacht werden. Das Ziel sollte die Verringerung der überproportionalen Nachfrage nach Ressourcen sein und mitnichten die Erhöhung und Vereinfachung des Zugriffs. Europa könnte im 21. Jahrhundert und bei seinen Herausforderungen ankommen, wenn die Politik die Prioritäten auf die gerechte Reduzierung des Rohstoff- und Energieverbrauchs, die Schaffung eines anderen Wohlstands und die Förderung von globaler Gerechtigkeit und Solidarität setzt.

Dazu benötigen wir aber nicht nur andere Handelsabkommen mit mindestens verbindlichen sozial-ökologischen Regularien, sondern einen sozial-ökologischen Umbau hin zu einem Wirtschaftssystem, das allen Menschen in allen Regionen ein besseres Leben ermöglicht. (Ulrich Brand, Gabriel Eyselein, 14.7.2023)