Uraufführung Gutenstein Turrini
Verdrießliche Lektüre im Buch der Geschichte: Günter Franzmeier (mit Johanna Mahaffy) studiert in Peter Turrinis "Es muss geschieden sein" nicht nur Raimund, sondern auch die Chronik einer politischen Katastrophe.
Joachim Kern

Ist die politische Lage unübersichtlich, empfiehlt es sich, die eigene Gunst gleichmäßig auf alle Lager aufzuteilen. Man schreibt das Wiener Revolutionsjahr 1848. Die Zeltbühne der Raimundfestspiele in Gutenstein ist leer – ein noch unbeschriebener Bogen Papier. Er ist wie gemacht für Autoren, denen an einer möglichst wahrheitsgetreuen Wiedergabe unserer Geschichte gelegen ist: an einer Apotheose der unvollendeten, mit Bleikugeln niedergestreckten, brutal abgewürgten Revolution von 1848.

Der größte unter den Theatergeschichtsschreibern ist ihr routiniertester. Peter Turrini, ein Wahlniederösterreicher, hat auf Zuruf der Gutensteiner Intendanz den Feendichter Ferdinand Raimund nicht etwa vom Sockel gestürzt, sondern ihn, wie man heute sagt: "neu kontextualisiert".

Sein Auftragswerk Es muss geschieden sein enthält beides: die wehmütige Rückschau auf eine Gruppe Vorstadtgaukler, die, in das Federkostüm kindlicher Einbildungskraft gehüllt, 1848 Raimunds Der Bauer als Millionär einstudieren. Draußen vor der Bühnentür pfeifen den Wienerinnen und Wienern die Kugeln der Reaktion um die Ohren. Kinder liegen tot im Wiener Volksgarten, die Füsiliere der Nationalgarde kassieren Mordgroschen („Kreuzer“) für jeden Aufrührer, den sie eigenhändig exekutieren.

Der schlimmste von ihnen allen spricht zugleich in unser aller Namen. Adam Holzapfel (Günter Franzmeier), Vater von fünf Kindern und Zyniker von Geschichtswegen, besitzt die zähe Widerborstigkeit der Nestroy'schen Possentreiber.

Unruheherd in Person

Holzapfel, sei wachsam! Dieser personifizierte Unruheherd bildet den Fremdkörper in Biedermeier-Wien. Franzmeier ist der Spaltpilz der Vernunft, seine Suada mit proletarischer Weisheit gespickt: Die "Press-Freiheit" erzwinge noch keine "Fress-Freiheit". Die Vertreter des Hochadels erkenne man hingegen am Vorbiss. In Sentenzen wie diesen fühlt man sich an den kampfeslustigen Turrini erinnert: den revolutionären Rappelkopf der 1970er und 1980er, der Figaro und Co gegenüber den parfümierten Laffen der Aristokratie handgreiflich werden ließ.

Holzapfel aber durchlebt alle Wechselfälle politischen Unglücks. Frisst er anfangs noch ein Schnitzel, landet er gegen Ende des Stückes bei der lukullisch unergiebigen Steckrübe. Regisseurin Stephanie Mohr spannt einen langen Legato-Bogen über Turrinis Text. Geschildert wird die Probenarbeit eines Ensembles von Unglückswürmern: Deren Komik liegt in der schieren Unangemessenheit ihres Verhaltens.

Während draußen eine Welt zerbricht, pflegen Schmierenkomödianten und junge Liebhaberinnen im künstlichen Probelicht ihre kleinen Eitelkeiten. Das Theater postuliert ein Leben im Kostüm. Falsch, ruft Turrini dazwischen: Nichts ist wahrhaftiger als die Maskerade!

Zarter Abgesang

Sein Stück ist weder Tragödie noch Komödie. Eher schon bildet es einen Epilog: den zarten Abgesang auf allzu optimistische Blütenträume. Die junge Mimin Zäzilie (mit Talent gesegnet: Johanna Mahaffy) verguckt sich in den Industriellensohn Kammerlander (Julian Valerio Rehrl), der vom umtriebigen Impresario Tassié (Thomas Frank) zum Schauspieler umfunktioniert wird. Die Sache geht, mit Blick auf das welterfahrene Mädchen, nicht gut aus. Die Truppe zerfällt, und man erfreut sich prächtig-gemeiner Charakterskizzen, hingetupft von Könnern wie Alexander Strobele oder Eduard Wildner. Manches Mal verwünscht man insgeheim Mohrs inszenatorische Gemächlichkeit; sie ist aber auch zu etwas gut.

Während die Revolution ihre Wiener frisst, ist es der Holzapfel (Franzmeier), der nicht weit vom Stamm fällt. Er gibt das Exekutieren auf – aber nicht aus Humanität, sondern weil es für seinesgleichen nicht genügend abwirft. Der Überbringer der schlechten Nachricht, Turrini, wurde mit Standing Ovations geehrt. Das Stück wandert im Jänner 2024 an die Josefstadt, die koproduziert hat. Es bildet im Werkverzeichnis des Dichters einen kleinen, ziselierten Eintrag. (Ronald Pohl, 14.7.2023)