Michael Krüger
Schriftsteller und frisch gekürter Poeta Laureatus Michael Krüger.
imago/Thomas Frey

Als vor genau 300 Jahren der deutsche Dichter Johann Christian Günther, nicht einmal dreißig Jahre alt, in Jena von einer Tuberkulose dahingerafft wurde, verstarb ein von seinen Zeitgenossen und von der Nachwelt als großes Talent eingestufter Poet zwischen Barock und Neuzeit. Er kannte nicht nur alle Schliche der Alten und beherrschte sämtliche Formen des formbewussten Barocks, sondern war, befeuert durch eine besondere Sinnlichkeit und Einbildungskraft, wie Goethe es ihm in Dichtung und Wahrheit attestierte, auch ein Neuerer, der die Grenzen des Sagbaren erweiterte.” Man dichtet nach Vorbildern und Regeln; doch bemächtigt sich der Geist der Dichtung einiger Dichter, um den bloßen Kunstverstand weit zurückzulassen und ungeahnte Vollendung zu wirken”, schreibt Edgar Hederer in seiner Anthologie der Barocklyrik. Günther ist der erste große Dichter eines neuen Zeitalters.” Noch ist die alte Form mächtig, die Distanz zum eigenen Erleben will. …Welt und Schicksal herausfordernd mit unerhörtem Freimut will er, wie man sich einen Verband von der Wunde reißt, von der alten Welt los. … Ein Fluch liegt über seinem Leben. Vielleicht bedurfte es solchen Unglücks, um solche Größe zu wecken. Er ist einer, der stets bar bezahlt hat.”

Sich ausschließlich der Dichtung widmen

Ich liebe diese Emphase, mit der der alte Herr Professor Hederer in den Fünfzigerjahren über Poesie sprach, so ist danach nicht mehr geschrieben worden. Aber bei dem Satz: „Er ist einer, der stets in bar zahlt” wurde ich stutzig. Denn Christian Günther war ein armer Schlucker, einer von diesen Habenichtsen, der den Rat des Vaters, ein ordentlicher Mediziner zu werden, ausgeschlagen hat, um sich ganz und ausschließlich der Dichtung widmen zu können, eine Lebensperspektive, die auch heute kaum einem Vater gefällt. Günther konnte gar nicht bar bezahlen, weil er buchstäblich keinen Groschen im Hosensack hatte. Also hat er Schulden gemacht, auf Pump gelebt.

1716, also mit 21 Jahren, wurde Günther zum Poeta Laureatus Caesareus ernannt, eine Ehrung, die nur wenigen deutschen Dichtern widerfahren ist. Er durfte gewissermaßen öffentlich den Lorbeerkranz tragen, was seinen Vater aber auch nicht besänftigen konnte. Vor allen Dingen deshalb nicht, weil Günther nach dem Festakt seine Dichterfreunde und ihren Anhang in eine Schenke einlud, um auf das Ereignis anzustoßen. Es wurde, wie man hört, ein langer Abend. Und es wurde so viel getrunken, dass Günther die Zeche nicht bezahlen konnte und der Vater sie nicht bezahlen wollte, weshalb der Dichter in den Schuldturm überführt wurde. Da saß er nun also mit seinem Lorbeerkranz - wie vor ihm nur die deutschen Dichter Martin Opitz, Paul Fleming und Quirinus Kuhlmann ihn tragen durften - im Gefängnis, ein alkoholkranker Jüngling, der auch beim Antrittsbesuch als Hofdichter beim König August dem Starken betrunken erschienen war und die Stelle natürlich nicht erhalten hatte - aber dieses Häufchen Elend hatte einige der schönsten deutschen Liebesgedichte geschrieben.

Wie kommt ein Dichter nicht in den Schuldenturm?

Als ich von der ehrenvollen Auszeichnung zum poeta laureatus hörte - für die ich mich bei den Preisstiftern und der Jury bei dieser Gelegenheit gleich herzlich bedanken möchte -, musste ich natürlich sofort an das Schicksal des armen Johann Christian Günther denken. Ich bin zwar noch nicht alkoholkrank und viermal so alt wie Günther, als er die Ehrung erhielt, aber ich habe mir auch mein Leben lang Gedanken darüber gemacht, wie man es anstellen muss, dass Dichter n i c h t in den Schuldturm kommen. (Dass ich vor zwanzig Jahren eine bis heute nicht überholte Studie über "Literatur & Alkohol" geschrieben habe, über die liquide Grundlage des Buchstabenrausches, will ich hier nur am Rande vermerken; sie ist noch immer lieferbar.) Es gehört ja in dem angelsächsischen Verständnis des poet laureate, dass er sich in seiner Amtszeit um das Wohl der Dichtung bemühe.

Die Verbreitung der Poesie fördern

Und genau das habe ich mein Leben lang getan: als Verleger, Zeitschriftenherausgeber, Juror, Laudator, und sogar als Übersetzer; ich war mein Leben lang zutiefst davon überzeugt, dass es nützlich ist, die Verbreitung der Poesie zu fördern, weil die Dichtung ein Antidot ist gegen - ja, gegen fast alles, was unser Leben so trist und banal macht. Ich habe sogar, eine Anregung von Joseph Brodsky weiterführend vorgeschlagen, vor jeder größeren Sitzung, im Parlament, in Aufsichtsratssitzungen, Schulversammlungen oder bei Firmenjubiläen, ein Gedicht vorzutragen, weil ich überzeugt bin, dass sich die danach gebrauchte Sprache ändert, vorsichtiger mit Begriffen umgegangen und sich insgesamt ein anderer Ton bemerkbar macht. Stellen Sie sich vor, unser Wirtschaftsminister Christian Lindner würde vor der Lesung des Haushalts Günthers „Als er beinahe ungeduldig werden wollte” vorlesen, in dem es heißt:

Der Abend aller Tage
Bricht wohl noch nicht herein;
Jetzt rase Sturm und Plage,
Es wird nicht stets so sein.

Dein Wille ist mein Glücke,
Die Hoffnung meine Ruh;
Der Erdkreis brech in Stücke,
Ich seh mit Großmut zu.

Aber natürlich hätte ich auch nichts dagegen, wenn Olaf Scholz das Gedicht über die Ameisen auf der Elbchaussee und Alexander van der Bellen ein Gedicht der Christine Lavant lesen würden - jedem guten Gedicht gelingt es, die Welt für Augenblicke oder auch für länger zu verändern - fast hätte ich gesagt: zu verzaubern, aber das hätte zu sehr nach Herrn Hederer geklungen. "In manchen Momenten schien mir, als sei die Welt im Begriff, ganz zu versteinern: ein langsames Versteinern, das je nach Personen und Orten mehr oder weniger weit fortgeschritten war, aber keinen Aspekt des Lebens ausließ. Es war, als könnte sich niemand dem unerbittlichen Blick der Medusa entziehen", schreibt Italo Calvino: und gegen diese seltsame Versteinerung hilft nicht nur, aber doch auch das Lesen von Gedichten. Wobei es darauf ankommt, ob man sich für Gedichte entscheidet, die die Welt leichter, oder solche, die sie schwerer machen; gelegentlich habe ich auch von warmen und von kalten Gedichten gesprochen.

Francesco Petrarca, der italienischen Dichter aus dem 14. Jahrhundert, dem wir zuallererst die Vorstellung eines poeta laureatus verdanken, hat in seinen Briefen in die Welt immer so getan, als sei ihm die Lorbeerkrone lästig: "Was kann die Dichterkrönung bedeuten, wenn sie weder besser noch gelehrter macht." Aber er hatte nichts dagegen, dass er ständig mit ihr abgebildet wurde: sie gehört zu seiner Ikonographie wie der schöne Purpurmantel, den ihm der weise König Robert von Neapel zur Krönung in Rom schenkte, die im Übrigen verbunden war mit der Verleihung des römischen Bürgerrechts. Petrarca hatte zwei Einladungen zur Dichterkrönung erhalten, eine aus Paris und eine aus Rom. Paris - das kann man sehr anschaulich bei Karl Heinz Stierle nachlesen - war die Hauptstadt der Moderne mit einer Universität, die in ganz Europa berühmt war, Rom stand für die Antike. Der Dichter entschied sich für Rom, das seiner Heimat näher war, und gegen Paris, das von seinem Exil in der Vaucluse leichter zu erreichen gewesen wäre. Und warum hat er sich schließlich doch die Krone aufs Haupt setzen lassen? Natürlich aus Eitelkeit - und was musste der Arme unter seiner Eitelkeit leiden: "Unendlicher Neid war ihre Frucht, sie raubte mir meine Ruhe und strafte mich für meine leere Ruhmsucht und meine jugendliche Verwegenheit. … ich musste mich immer verteidigen und zur Linken und zur Rechten die Hiebe der Freunde parieren, die die Eifersucht zu meinen Feinden gemacht hatte."

Ich werde keine Lorbeerkrone tragen, schon gar nicht öffentlich. Ich werde aber, wie mein Freund Charles Simic, der einst poet laureate in den USA war, weiter dafür mich einsetzen, dass die Gattung des Gedichts, die mit den Psalmen begann und mit den Grübeleien im Rinnstein von Charles Simic nicht endet, eine Zukunft hat - sofern ein fast achtzigjähriger weißer Mann überhaupt an die Zukunft denken darf, ohne ausgelacht zu werden.

Noch eines zum Schluss. Wir leben im Krieg. Die Hoffnungen meiner Generation, noch im Krieg geboren und in einem langen, wenn auch immer bedrohten Frieden aufgewachsen, dass nun die Weichen gestellt wären für einen dauerhaften Frieden aus der Einsicht, dass die Verschiedenheit von Lebensstilen geradezu zur solidarischen Einheit führen muss, haben sich zerschlagen. Die Maurer sind wieder am Werk, innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften. Die Enttäuschung und Verbitterung darüber ist naturgemäß größer und entsetzlicher als aller Gram über die Nichtbeachtung der Poesie. Und dennoch ….

Lassen Sie mich das Kriegslied aus dem Wandsbeker Boten von Matthias Claudius lesen: ‚s ist Krieg! ‚s ist Krieg! O Gottes Engel wehre … (Michael Krüger, 16.7.2023)