"Ich weiß auch nicht", fragt schnoddrig Alice Schwarzer, "was Mark Twain da geritten hat", und meint seine Kritik an der literarischen Güte seiner Schriftstellerkollegin Jane Austen. Die Feministin und "Emma"-Herausgeberin war aber nicht als Austen-Expertin nach Lech gereist, sondern um aus "Mein Leben" zu lesen und so eine Bilanz eines aufregenden Frauenlebens zu ziehen. Dass man mit Schwarzers politischen Überzeugungennicht einverstanden sein muss, darauf hat die souveräne Moderation von Katja Gasser verwiesen. In Oberlech aber schwebte Austens Geist: "Stolz und Vorurteil", beides abzulegen waren hier alle eingeladen.

Lech Literaricum
Literaricum Lech 2023: Alice Schwarzer weiß nicht, was Mark Twain geritten hat.
Dietmar Hurnaus / Lech Zürs Tourismus

Scharfe Zungen

Der Literaturkritiker Denis Scheck hat sich in seiner Eröffnungsrede als großer Fan geoutet, und spätestens die 80-Minuten-Lesung aus dem Bestseller von Schauspieler Thomas Sarbacher hat mögliche Vorurteile zerstreut und die "scharfe Zunge" (Woolf über Austen) gezeigt, mit der Austen den Bennet-Schwestern in ihrem Tanz um so dringliche Fragen wie wer wie schön oder reich ist und wer am Ende wen kriegt ein literarisches Denkmal gesetzt hat. So lauscht man und schaut auf den Omesberg und die sattgrünen Wiesen, die in Lech so gut beregnet sind wie sonst nur noch britische Grafschaften, Derbyshire zum Beispiel, wo der so sperrige Mr. Darcy aus Austens "Stolz und Vorurteil" aufgewachsen ist.

Kinder? Nein, danke

Dass das Stück zeitgemäße Facetten bereithält, dafür sorgte die Kuratierung von Nicola Steiner, die mit September neue Chefin am Literaturhaus Zürich wird. Einen kulturwissenschaftlichen Unterbau zum Thema Frauenrollen liefert Sarah Diehl. Ihr geht es um eine Entscheidungsfreiheit, deswegen bietet die Autorin von "Die Uhr, die nicht tickt" und "Die Freiheit, allein zu sein" auch Seminare zum Thema "Will ich Kinder?", eine Frage, die Austen, nie verheiratet, offensichtlich mit Nein beantwortet hat. Wer Mütterlichkeit sagt, meint Fürsorglichkeit, und die müsse unbedingt vom weiblichen Geschlecht abgekoppelt werden. Klassische Literaturfürsorge betreiben dann die Austen-Übersetzerin Andrea Ott und der Manesse-Verleger Horst Lauinger. Dass beide da sind, ist ein Glücksfall, weil sie Einblick in die Übersetzungsarbeit von 200 Jahre alten Texten wie "Stolz und Vorurteil" geben. Zu viel Ehrfurcht vor Klassikern sei aber kontraproduktiv. Für Ott sind Austens Betrachtungen von Geschlechterrollen am Anfang des 19. Jahrhunderts revolutionär, sie lobt ihren Hang zu Ironie und hat eine "Höllenfreude" beim Übersetzen.

Jane Austen reloaded?

Die verbreitet sich auch während der Lesung von Martin Mosebach aus seinem neuen Roman "Taube und Wildente". Bissiger Humor und stilistische Pracht schließen an Austen an. Die Tatsache, dass der Autor sich selbst als orthodoxen Katholiken bezeichnet, auch Stoff für Vorurteile, tut für seine Literatur nichts zur Sache, darüber sind er und Literaricum-Erfinder Michael Köhlmeier sich einig. Beide mäandern gekonnt von Doderer zu Shakespeare und weiter zu Simenon und sprechen über nichts weniger als ihre Zugänge zum Schreiben. Wie viel von Verena Rossbacher in der eigenwillig komischen Frauenfigur ihres Romans "Mon Cherie und unsere demolierten Seelen" steckt, ist in Lech nicht auszumachen. Zum Lachen bringt sie das Publikum mit Auszügen über die herrlich neurotischen Dating-Vorbereitungen ihrer Charly Benz. Jane Austen reloaded? Die Buchpreisträgerin sorgte mit hochgeschlossener Spitzenbluse für dichteste Austen-Atmosphäre.

Literaricum Lech 2023: Die Buchpreisträgerin Verena Rossbacher sorgte mit hochgeschlossener Spitzenbluse für dichteste Austen-Atmosphäre.
Dietmar Hurnaus / Lech Zürs Tourismus

Oberlech und Unterwelt

Dass Literaricum-Mitgründer Raoul Schrott einen guten Draht zu den Göttern hat, offenbart das Prachtwetter am Samstag auf der Kriegeralpe, wenn er Hesiods "Theogonie" aus dem Jahr 700 v. Chr. erläutert. Die Haut riecht nach Ozon, und der Himmel ist nah, alles findet zueinander: Musen und Götter, Oberlech und Unterwelt, Berge und Propheten, Lorbeerkranz und Dichter. Schrott hat sich als junger Mann übrigens Musenwasser vom Brunnen am Fuße des Helikons abgefüllt. Seinem damaligen Hanser-Verleger hat er davon mitgebracht. Kein Wunder, dass der Dichter Michael Krüger zum Abschluss des diesjährigen Literaricums zum ersten Poeta Laureatus gekürt wurde. Seine Gedichte zum Zeitgeschehen sind monatlich im STANDARD-ALBUM nachzulesen. Was Alice Schwarzer über ihr Leben als Frau bilanziert, darf in diesem Jahr für das Literaturfest insgesamt gelten: "Man hat sich nicht gelangweilt!" (Mia Eidlhuber, 16.7.2023)