"Nächster Halt: Porta Garibaldi", tönt es aus den Lautsprechern der Mailänder U5. Hier unten, in den klimatisierten Waggons der violetten U-Bahn-Linie, ist es angenehm kühl. Doch mit jedem Schritt Richtung Ausgang ist die sengende Hitze immer deutlicher zu spüren.

Auf den ersten Blick ist die Gegend um den Bahnhof Milano Garibaldi wenig einladend: viel Verkehr, viele Parkplätze, viel Grau, schlechte Luft. Nach Bäumen oder anderen Pflanzen, die bei Temperaturen von 35 Grad ein wenig Schatten spenden, sucht man vergeblich. Schon gar nicht würde man sich hier einen Wald erwarten. Und doch gibt es ihn, knapp zwei Gehminuten vom Bahnhof entfernt: den Bosco Verticale – einen "vertikalen Wald".

Video: Fünf Möglichkeiten, die Hitze in der Stadt zu reduzieren.
DER STANDARD

Grünes Aushängeschild

Der Bosco Verticale ist kein gewöhnlicher Wald, kein Naherholungsgebiet für gestresste und überhitzte Städter. Trotzdem zieht er jährlich tausende Besucherinnen und Besucher an. Das Besondere ist, dass die Pflanzen hier nicht im Boden wurzeln, sondern an der Fassade und den Balkonen zweier Wohngebäude in die Höhe sprießen. Die Idee dazu stammt vom Mailänder Architekten Stefano Boeri. Er möchte mit seiner "grünen Architektur" der Natur einen neuen Stellenwert geben, erklärt Boeri im Gespräch mit dem STANDARD: "Wir sehen Pflanzen nicht als Verzierung, sondern als zentralen Bestandteil von Architektur. Die Pflanzen sind für uns wie Mieterinnen."

2014 wurden die beiden Türme, 80 und 110 Meter hoch, nach fünfjähriger Bauzeit fertig gestellt. Heute beheimaten sie 900 Bäume und rund 20.000 weitere Pflanzen. Das sei vergleichbar mit der Biomasse von drei Hektar Wald – auf einer Fläche von gerade einmal 1.000 Quadratmetern, so Boeri. Der Bosco Verticale ist sozusagen Mailands grünes Aushängeschild: Das internationale Interesse ist auch knapp zehn Jahre nach der Eröffnung groß.

Bäume wachsen an zwei Gebäuden
Der Bosco Verticale in Mailand beheimatet mehr als 20.000 Pflanzen – vergleichbar miteinem Wald von drei Hektar Größe.
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Ein neuer Baum pro Einwohner

Der vertikale Wald dient immer wieder als Beispiel, wenn es darum geht, wie Städte grüner werden können. Denn einerseits ist man sich der Notwendigkeit von Grünflächen bewusst, um sich für zukünftige Hitzewellen zu wappnen. Andererseits stehen besonders Städte vor einer Herausforderung: Der Platz ist begrenzt – und gerade deswegen heiß umkämpft. Auch Mailand steht vor diesem Spagat. Hinzu kommt, dass die Metropole mit rund 3,4 Millionen Einwohnenden aufgrund ihrer geografischen Lage besonders unter der Belastung mit Stickoxiden und Feinstaub leidet.

Genau hier soll das Projekt Forestami Abhilfe schaffen. Es wurde 2019 ins Leben gerufen und wird unter anderem von der Region Lombardei, der Metropole Mailand sowie den Universitäten und Parks der Stadt unterstützt. Ziel des Projektes ist, bis 2030 drei Millionen zusätzliche Bäume und Sträucher zu pflanzen – und damit die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern, erklärt Boeri, der zugleich auch Präsident von Forestami ist. Das Grün soll dabei nicht nur für bessere Luft sorgen, sondern gerade im Sommer wertvollen Schatten spenden. Ebenso erhoffe man sich positive Auswirkungen auf die Biodiversität in der Stadt. Nicht zuletzt seien die Pflanzen auch für das Wohlbefinden und die physische Gesundheit der Bevölkerung wichtig.

Günstig und effizient

Seit Projektstart im Jahr 2019 wurden knapp 430.000 neue Pflanzen in der Stadt untergebracht. Private und öffentliche Stellen haben das Projekt finanziert, im vergangenen Jahr mit rund 1,3 Millionen Euro. Demgegenüber stehen laufende Kosten in Höhe von einer Million Euro – der Rest wird in neue Setzlinge investiert. Die überschaubaren Kosten sind nur eine der Vorteile, die das Projekt laut Boeri mit sich bringt: "Begrünung ist die günstigste Lösung. Bäume zu pflanzen ist außerdem nicht sehr kompliziert. Und es ist effizient, weil das Ergebnis in nur wenigen Monaten sichtbar ist."

Drei Millionen Pflanzen sollen in Mailand bis 2030 gesetzt werden. Die Maßnahme sei günstig, unkompliziert und effizient.
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Auch Florian Reinwald, Wissenschafter am Institut für Landschaftsplanung an der Universität für Bodenkultur Wien (Boku), sieht das Mailänder Projekt als Vorbild: "Solche Projekte sind genau das, was wir jetzt brauchen." Es brauche klare Vorgaben, die messbar seien. Außerdem würden sie laut Reinwald ein klares Signal aussenden: "Man zeigt, dass man etwas tut und dass es funktioniert."

25.000 Bäume bis 2025

Auch im Wiener Regierungsprogramm von SPÖ und Neos kommt die Begrünung nicht zu kurz – zumindest auf dem Papier. Zwar sehe man sich selbst mit einem Grünraumanteil von 53 Prozent bereits als die "grünste Stadt der Welt". Dennoch sollen bis 2025 weitere 25.000 Bäume im Straßenraum hinzukommen. Bisher wurden davon 10.580 Bäume gepflanzt, mehr als die Hälfte fehlt also noch. In diesem Jahr waren es bis Ende Mai erst rund 1.100 Neupflanzungen, teilt die Stadt Wien auf Anfrage mit.

Viele andere Maßnahmen zur Stadtbegrünung sind derzeit ebenfalls noch in Umsetzung. Von den insgesamt 19 Maßnahmen, die sich im Regierungsprogramm unter dem Punkt "Lebenswerte Klimamuster-Stadt" finden, stehen aktuell 15 aus. Geplant ist unter anderem auch die Neugestaltung von öffentlichen Orten wie dem Michaelerplatz oder der vielbefahrenen Reinprechtsdorfer Straße. Diese seien "als versiegelte Betonwüsten nicht mehr aktuell". In den kommenden Monaten soll dies geändert werden.

Modell des neugestalteten Michaelerplatzes mit Bäumen und Wasserfontänen
Der Michaelerplatz im ersten Bezirk soll ab Februar 2024 umgestaltet und begrünt werden. Derzeit ist das Projekt noch Zukunftsmusik.
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Dass solche Maßnahmen dringend notwendig sind, zeige sich besonders in den gründerzeitlichen Bezirken, etwa im zehnten, 15. und 16. Bezirk. Dort, aber auch in den Bezirken innerhalb des Gürtels, ist die Unterversorgung mit Grünraum besonders markant, weiß Boku-Forscher Reinwald aus aktuellen Studien: "Das werden wir jetzt aber auch nicht so schnell ändern können. Die Stadt ist gebaut, die Gebäude stehen. Das heißt, man muss sich für jede einzelne Struktur in der Stadt individuelle Lösungen überlegen, wie man mehr Grün hineinbringt." Gleichzeitig sei es wichtig, eine flächendeckende Begrünung über einzelne Maßnahmen hinweg in Angriff zu nehmen. "Ein einzelner Baum, eine einzelne Fassadenbegrünung wird weder das Klima retten noch enorme messbare Effekte haben, sondern es muss großflächig neuer Grünraum geschaffen werden", fordert Reinwald.

Fördern und fordern

Der Experte für Landschaftsplanung sieht Wien aber zumindest auf dem richtigen Weg. In den vergangenen Jahren hätte man etwa die Zulassung für Begrünungsprojekte wesentlich vereinfacht. Zudem fördert die Stadt Fassaden- und Dachbegrünungen mit bis zu mehreren Tausend Euro. Zwischen 2020 und 2022 wurden laut Angaben der Stadt insgesamt 200 Gebäudebegrünungen mit einer Gesamtsumme von knapp 420.000 Euro unterstützt. Die finanzielle Förderung solcher Vorhaben sei ein wichtiger Anreiz, findet Reinwald: "Es sind jetzt keine riesigen Geldbeträge, aber es geht um das Symbol. Wenn jemand einen Beitrag leisten will, muss das von der Stadt unterstützt werden."

Was derzeit noch fehle, seien entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen, die auch private Bauträger und Hausbesitzerinnen zu mehr Begrünung verpflichten. "Das ist sicher eine der Lücken, die es jetzt zu schließen gilt, in diesem Kontext auch die Privaten stärker in die Verantwortung zu nehmen. Jeder Bauträger, jeder Hausbesitzer kann und muss seinen Beitrag leisten." Es müsse bei allen ankommen, dass Grün nicht nur "nice to have" ist, sondern ein zentrales und wichtiges Element einer Stadt darstellt.

Begrünte Fassade
Eine begrünte Fassade, hier in Bratislava, wirkt wie eine natürliche Klimaanlage. In Wien erhält man dafür bis zu 5.200 Euro an Förderungen.
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Schritt für Schritt

Auch in Mailand kämpft man mit Gegenwind. Nicht alle sind auf Anhieb davon begeistert, wenn die Straße zur Arbeit oder der eigene Parkplatz zur Grünfläche werden. Die Menschen lernen die Vorteile der Bepflanzung aber immer mehr zu schätzen, merkt Architekt Boeri: "Ich habe das Gefühl, dass das Bedürfnis nach Grünraum, nach guter Luft, nach schattigen Plätzen so akut ist, dass andere private Interessen in den Hintergrund treten. Aber es ist ein schrittweiser Prozess."

Um die Akzeptanz des Projektes zu erhöhen, werden außerdem nun auch die Bürgerinnen und Bürger verstärkt eingebunden. Im März etwa wurden 1.000 Pflanzen an Personen vergeben, die sich für ein halbes Jahr um die Setzlinge kümmern. "Im Oktober nehmen wir die Pflanzen wieder zurück und setzen sie ein", erklärt Boeri. Am Ende packen alle gemeinsam an, um der Hitze in der Stadt den Kampf anzusagen. (Theresa Scharmer, 19.7.2023)