Impulstanz Lucinda Childs
Lucinda Childs in "Description (of a description)" bei Impulstanz.
Bernardo Fregoso

Unlängst um elf Uhr vormittags sei ein Mann vor ihr auf dem Gehsteig zusammengebrochen, berichtet die elegante, hochgewachsene Erzählerin. Sie bewegt sich in einer erhöhten Box mit weiß leuchtendem Hintergrund auf der Bühne des Akademietheaters. Hier spielt Lucinda Childs, postmoderne Choreografin der ersten Stunde, gekonnt mit der Grenze zwischen Tanz und Schauspiel.

In den Publikumsreihen perlt dezent der Schweiß, die Hitzewelle frisst sich täglich tiefer in die Theater. Doch Childs’ Worte knistern so cool wie Eiswürfel in einem frisch gemixten Drink. Der Text, Description (of a description), stammt von Susan Sontag, mit der die heute 83-jährige Tänzerin Anfang der Achtzigerjahre eine stürmische Affäre hatte.

Gemeinsam mit ihrer Flamme soll Sontag, wie ihr Biograf Benjamin Moser berichtet, im Jahr 1982 während einer Krise ihres Sohnes David Rieff Hals über Kopf nach Italien aufgebrochen sein. Überforderung, Stress, eine Flucht wie ein Zusammenbruch. So ähnlich wie der Mann auf dem Gehsteig. "Nichts hat mich auf dieses Drama vorbereitet", beschwert sich Lucinda Childs als Sontags Erzählerin. Wäre ihr bewusst gewesen, was passieren würde, "hätte ich mich passend dafür angezogen".

Starpianist Alain Franco

Das ist nicht die einzige Ironie in Childs’ nach Sontags Text benanntem Solo in der Bühneninstallation von Hans Peter Kuhn, der als Komponist und Szenograf unter anderen mit Peter Zadek, Claus Peymann und Luc Bondy gearbeitet hat. Das im Jahr 2000 entstandene Stück ist Teil eins eines Doppelabends mit dem Übertitel Distant Figure. Den zweiten Teil machte die Uraufführung von 4 etudes by Philip Glass, einem kurzen Werk, das die Choreografin dem Festival zu dessen Vierziger-Jubiläum gönnte.

Darin spielt kein Geringerer als Starpianist Alain Franco die Glass-Stücke, das erste und das dritte ohne Tanzbegleitung. Zu den beiden anderen Etüden zeigten Mitglieder des römischen MP3 Dance Project, das auch Childs’ und Robert Wilsons Relative Calm zum Auftakt von Impulstanz bestritten hatte, ein kühl distanziertes Trio und ein gefühlsbetontes Duett. Das Publikum applaudierte begeistert.

Gar nicht distanziert, sondern bis zum Anschlag emotional verspricht übrigens Blast! zu werden, ein Solo, das Lucinda Childs’ Nichte Ruth Ende Juli bei Impulstanz zeigt. Thema der 39-Jährigen, in Genf lebenden Tänzerin ist der eruptive Abgrund menschlicher Aggression. Ruth Childs hat sich vor zwei Jahren mit der Rekonstruktion einer Reihe von Frühwerken ihrer Tante und mit ihrer Arbeit Fantasia vorgestellt.

Was Description (of a description) und Blast! thematisch miteinander verbindet, ist die kurze Distanz zwischen Gestresstsein und Gewalt. Hier zeigen sich auch gleich die Unterschiede in den künstlerischen Ansätzen der beiden: Lucinda Childs hält nämlich Abstand zum Ausdruckshaften. (Helmut Ploebst, 18.7.2023)