Pogacar vor Vingegaard
Die Nähe der Fans macht das Duell ums Gelbe Trikot zwischen Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard nicht einfacher.
AFP/MARCO BERTORELLO

Wunden lecken ist seit jeher eine der Hauptbeschäftigungen an Ruhetagen der Tour de France. Ganz besonders galt das aber für das zweite Verschnaufen während der 110. Auflage der Grande Boucle am Montag in und um Saint-Gervais-les-Bains am Fuß des Mont Blanc. Die auf das Feld der noch 157 im Rennen befindlichen Profis hochgerechnete Fläche der Hautabschürfungen muss in die Quadratmeter gehen.

Vor allem die beiden Etappen in Hochsavoyen am Wochenende forderten viele Opfer. Die wenigsten waren der nicht selten von Gedankenlosigkeit begleiteten Begeisterung oftmals nicht nur freudentrunkener Fans an der Strecke geschuldet. Freilich blieb vor allem der von einem um ein Selfie mit heranbrausendem Feld bemühten Zuschauer ausgelöste Massencrash am Sonntag in Erinnerung.

Die Highlights der 15. Etappe
Die Sturzszene ist ab 0:16 zu sehen.
Sportschau

Die Szene, die polizeiliche Ermittlungen nach sich zieht, befeuerte einmal mehr die Diskussion, wie einerseits die Sicherheit des Rennens verbessert, aber andererseits die sonst nicht zuletzt von Sponsoren und Medien so geschätzte Volksfeststimmung um die Tour erhalten werden kann.

Schicksalsergeben

Den Profis selbst bleiben nur Appelle an die Vernunft der Menschen. "Die Zuschauer müssen sich einfach nett verhalten und dürfen nicht auf der Straße stehen und Fotos machen", sagte der dänische Titelverteidiger und Gesamtführende Jonas Vingegaard. "Wir lieben die Fans", versicherte sein slowenischer Verfolger Tadej Pogačar, "aber sie müssen echt aufpassen." Ihm bleibt auch nur das Prinzip Hoffnung, "denn auf Abfahrten kann so etwas zum Desaster werden".

Die Faszination der Tour lebt seit jeher von der ungewöhnlichen Nähe der Fans zum Geschehen. "Das gibt es ja sonst in kaum einer anderen Sportart", sagt Wolfgang Konrad, der in diesem Jahr mit seiner VCM Group erfolgreich das Comeback der Österreich-Radrundfahrt mitorganisierte und dessen Sohn Patrick in Frankreich gegenwärtig für das Team Bora leidet. Konrad gibt Sepp Kuss recht. Der US-Profi, dem das Selfie am Sonntag zum Verhängnis geworden war, sieht die Fans schlicht nicht vorbereitet auf das "größte Radrennen der Welt. Viele wissen einfach nicht genau, was abgeht." Das sei leider "Teil der Tour".

Podium Tour of Austria
Tour of Austria
Als Mitorganisator der Tour of Austria kennt Wolfgang Konrad (3. v. li.) die finanziellen Zwänge
APA/EXPA/REINHARD EISENBAUER

Ungeahntes Tempo

Vor allem auf die Geschwindigkeit der Profis seien die wenigsten gefasst, sagt Konrad. "Es macht ja keiner absichtlich, aber mit der ganzen Handyfotografiererei ist es gefährlicher geworden." Dass in bestimmten Situationen die Emotionen nur schwer beherrschbar sind, hat Vater Konrad schon selbst erlebt. "Wenn es einen packt, kann man schon falsch reagieren, etwa Fahrer übersehen." Die Organisationserfahrung lehrt Konrad, dass eine vollkommene Absicherung des Rennens nicht möglich ist, "schon aus finanziellen Gründen. Die gesamte Strecke kann niemand eingittern. Und alle paar Meter einen Aufpasser hinzustellen kann sich auch niemand leisten."

Klare Ansagen der Profis vermisst Konrad ein wenig. "Es geht ja um ihre Gesundheit. Sie müssten gemeinsam deutlich machen, dass es Grenzen geben muss, dass sie unter gewissen Umständen nicht mehr bereit sind, diese Risiken auf sich zu nehmen."

Organisation gefordert

Dass sich die Organisation ständig hinterfragen muss, steht außer Diskussion. Das gilt etwa für die Anzahl und die Verhaltensregeln für Begleitmotorräder, aber auch für den Ablauf über das tägliche Rennen hinaus. So mussten die Profis am vergangenen Freitag nach der Bergankunft am Col du Grand Colombier denselben Weg wieder zu Tal rollen, um zu ihren Teambussen zu gelangen. Zwischen teils schwer alkoholisierten Fans und Autos sei das "tatsächlich lebensgefährlich" gewesen, wie der belgische Topstar Wout van Aert sagte.

Das Bild stammt vom Massensturz der 15. Etappe. Zwei Fahrer und Räder liegen am Boden. Andere Fahrer bringen ihr Rad wieder auf Vordermann.
Das Bild stammt vom Massensturz der 15. Etappe.
REUTERS/BENOIT TESSIER

Gegen die Uhr

Zumindest am Dienstag anlässlich der 16. Etappe dürften die Gefahren überschaubar sein. Das Duell um das Gelbe Trikot – Vingegaard liegt zehn Sekunden vor Pogacar – wird im 22,4 Kilometer langen Einzelzeitfahren zwischen Passy und Combloux fortgesetzt. In den vergangenen beiden Jahren lag der Däne in wesentlich längeren Zeitfahren jeweils vor seinem slowenischen Kontrahenten.

Mehr als 600 Höhenmeter liegen diesmal zwischen Start und Ziel. Ausschlaggebend dürfte die Cote de Domancy sein, ein kurzer, aber steiler Anstieg der zweiten Kategorie kurz vor dem Ziel. Der kommt dem Osttiroler Felix Gall entgegen, der als Elfer in Schlagdistanz zu den besten zehn bleiben will. (Sigi Lützow, 18.7.2023)