Zitrone und Limone
Viel Frische bringt die Zitrone in bekannte Rezepte.
Illustration: Tobias Burger

Trockene, kalte und traurig aussehende Nudeln fristen im Topf ihr Dasein. Eine Frauenhand presst drei ganze Zitronen über den Pastaberg und wirft die ausgequetschten Schalen dazu. Sie würfelt einen Butterblock, die Stücke landen im Topf. Ein Schöpfer Nudelwasser bringt wieder Wärme ins Spiel. Denn die Butter gehört ja geschmolzen. Umrühren und mit einer exorbitanten Menge geriebenen Parmesan bestreuen. Fertig ist die Pasta al limone – und ein virales Rezept auf der Videoplattform Tiktok.

Das Video der US-Amerikanerin Emily Mariko wurde im Juli vergangenen Jahres veröffentlicht und kann seither mehr als 25 Millionen Aufrufe verzeichnen. Es war das erste virale Zitronenrezept und kann als Ausgangspunkt des Trends, mit Zitronen zu kochen und zu backen, auf den Social-Media-Plattformen gesehen werden.

Besser machen, bitte

Berühmtheit erlangte das Gericht allerdings nicht aufgrund des grandiosen Geschmacks, sondern weil viele Userinnen und User das Rezept der Kalifornierin kritisierten. "Braucht mehr Würze" und "Vielleicht mag sie fade Gerichte" sind dabei noch die konstruktiveren Kommentare. Kann der Tiktokerin egal sein: Sie hat ihr Ziel erreicht und ein virales Video abgeliefert.

Als durchaus verbesserungswürdig erachtete das Rezept die Content-Creatorin Mamma Culinaria. Eigentlich heißt sie Claudia Arrabito, ihre Eltern stammen aus Neapel, sie selbst lebt in Deutschland. Sie reagierte auf das patscherte Zitronenpastarezept der Amerikanerin mit einer Anleitung, wie man die Pasta besser machen kann. Als Italienerin wird einem das ja quasi in die Wiege gelegt.

Für ihre Nudeln erhitzt sie Öl und Butter mit Knoblauch und Gewürzen in einer Pfanne und kocht darin die Nudeln al dente. Am Ende gibt sie Zitronensaft, Abrieb der Zitronen und Pastawasser hinzu, um eine Sauce zu kreieren (Rezept siehe Infobox). Das Video wurde zum Erfolg, konnte bis heute über 26 Millionen Views erzielen, das Rezept griffen Medien international auf.

Millionen Aufrufe

Spannend ist der Sauertrend im Internet, wenn man ihn der klassischen kulinarischen Welt gegenüberstellt: Saures spielt bei Hauptspeisen eher selten eine Hauptrolle. Salzig ist neben dem vollmundigen umami der wichtigste Geschmack beim Kochen. Süßes nimmt sogar einen eigenen Gang ein. Dabei kann Saures so vielfältig und komplex sein, wie die anderen Geschmacksrichtungen auch. Essig und Wein allein bringen beim Kochen Frische ins Gericht. Die leichten Sauernoten komplementieren komplexe und würzige Aromen und schupfen Speisen in Richtung Leichtigkeit. Fermentiertes, wie das südkoreanische Kimchi, ist eben auch wegen seines säuerlichen Geschmacks beliebt. Der derzeitige Foodtrend stellt aber vor allem die Säure der Zitrone ins verdiente Rampenlicht.

Der Zitrushype firmiert unter einem eigenen Hashtag: Auf der Videoplattform Tiktok summieren sich unter #Lemontok hunderttausende Kurzfilme mit und über Zitronen. Von Kuchen und Desserts bis hin zu zitronigen Hauptgängen findet man hier viel Inspiration für das Zitronenliebhaberherz. Fast 130 Millionen Mal wurden die Videos unter diesem Sammelbegriff bereits aufgerufen. Täglich werden neue Videos und Rezepte bei Tiktok und Instagram hochgeladen.

Saure Queen

Das erste virale Video erschien zwar vor einem Jahr, bis sich der Zitronenhype wirklich durchsetzte, sollte es aber noch ein wenig dauern. Vor allem im Winter sorgte die Hochsaison der Früchte für einen regelrechten Boom an sauren Rezepten. Die Zitrone landete nun in Desserts anstatt im Hauptgericht. Saure Versionen von Klassikern wie Tiramisu und Zimtschnecken poppten auf und wurden zu viralen Hits. Tausende Menschen posteten ihre Nachkochversuche. Der Hashtag #LemonTok wurde geboren.

"Zitrusfrüchte sind jederzeit verfügbar und eignen sich daher hervorragend als Content, der unkompliziert geteilt werden kann", erklärt die Kommunikationsberaterin, Expertin für Food-Trends und Zitronenfan, Nina Mohimi, den derzeitigen Trend. Der Hype hakt die klassischen Faktoren ab: leicht umsetzbar, polarisierend und unterhaltsam, sagt sie.

Unter den derzeitigen Rezepttrends gehört die zitronisierte Version des Tiramisus zu den beliebtesten. Die Biskotten werden anstatt in herbem Espresso in Zitronen-Zucker-Sirup getränkt. Die Mascarponecreme wird mit einer Lemon-Curd – einer Eiercreme mit Zitronen, wie man sie von Zitronentartes kennt – verfeinert. Zum Schluss bedeckt man das Tiramisu mit einer zitronengelben molligen Schicht. Besonders die Version der Bloggerin Mary Roz hat es den Hobbyköchinnen und -köchen angetan (Rezept siehe Infobox).

Das liegt auch an ihrer Inszenierung: Sie selbst stellt sich als schrulliges Blumenmädchen dar, das satte Gelb der Zitronencreme leuchtet einen als Zuschauer grell entgegen. Es ist bekannt, dass die Farbe Gelb den Appetit anregt, die Zitronen suggerieren zusätzlich Frische. "Viele Menschen glauben immer noch, dass Zitrusfrüchte Sommerfrüchte sind, daher tauchen jetzt rechtzeitig zum Sommerbeginn viele neue Zitrusrezepte auf", sagt Mohimi über die Flut, die gerade über Tiktok und Co schwemmt.

Selbst alte Rezepte erleben durch den Zitronentrend eine Renaissance. Lemon Posset zum Beispiel, ein britisches Gericht aus dem 19. Jahrhundert. Hierfür werden Schlagobers, Zitronensaft und Zucker aufgekocht und in ausgehöhlte Zitronenhälften gegossen (Rezept siehe Infobox). Nicht nur auf Tiktok beliebt, soll das Dessert eines der Lieblingssüßspeisen von Queen Elizabeth II. gewesen sein.

Wie der Mensch, so die Vampirfledermaus

Dass wir als Menschen überhaupt gerne und viel sauer essen, ist von der Evolution nicht unbedingt gewollt. "Sauer ist eigentlich eine milde Warnung", sagt Maik Behrens. Er ist Geschmacksforscher am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München. Die Geschmacksrichtung, sagt Behrens, soll auf unreife Früchte und verdorbenes Essen hinweisen. Bakterien erzeugen nämlich in ranzigem Essen häufig Säure. Im extremen Fall kann Säure dem Körper erheblichen Schaden zufügen, wie den Zahnschmelz zersetzen, Gewebe auflösen oder die Magen-Darm-Flora aus dem Gleichgewicht bringen.

Sauer als Geschmacksempfindung dient wie bitter zu schmecken als Schutzmechanismus vor unsicherem Essen. Damit sind wir Menschen aber nicht einzigartig, auch Pferde, Vampirfledermäuse und Axolotl meiden saures Essen. Dazu stehen im Gegensatz süß und umami als für uns attraktive Geschmacksrichtungen. Diese, sagt Behrens, weisen auf energiereiche Nahrung hin.

Dass wir Saurem abgeneigt sein sollten, ist praktisch mit der Geburt fixiert. "Wir können im Laufe unseres Lebens aber durch Erfahrungen mit einzelnen Nahrungsmitteln solche Abneigungen überwinden und gewisse Toleranzen entwickeln", sagt der Geschmacksforscher. Er nennt den Kaffee, der dem Menschen per se nicht schmeckt. Man muss den Geschmack mit positiven Erfahrungen verbinden, so könne man diesem etwas abgewinnen, sagt Behrens. Zum Beispiel, dass Kaffee wach macht. Genau so verhalte es sich auch mit Saurem.

Dass uns sauer nicht schmeckt, ist uns in die Wiege gelegt.
Dass uns sauer nicht schmeckt, ist uns in die Wiege gelegt.
Getty Images

Schon unsere Eltern können Vorbild sein, Saures zu essen. Behrens: "Wenn wir sehen, wie sie mit verklärtem Grinsen Sauerkraut oder sauren Hering essen, dann bestärkt uns das, dasselbe zu tun." Warum wir überhaupt eine Affinität zu Saurem haben, ist in der Forschung noch ein Rätsel. Eine – simplifizierte – Erklärung könnte sein, dass Säure einfach ein Indikator für Vitamin C ist, ein wichtiger Nährstoff für uns Menschen.

Ein Mix also aus süß und sauer wie beim Tiramisu oder umami und sauer wie bei der Lemon-Pasta macht Zitronengerichte so interessant für uns. Eben nicht nur die einfache Machart und die satten Farben befriedigen uns. Die Gerichte sind nährstoffreich und stützen sich auf positive Erfahrungen. Wenn wir also gutgemachte und würzige Lemon-Pasta essen, wollen wir in Zukunft mehr davon. Wenn wir die trockenen Nudeln der amerikanischen Tiktokerin probieren, werden wir das auch in Zukunft meiden. Da kann selbst der viele Parmesan nichts mehr ausrichten. (RONDO, Kevin Recher, 20.7.2023)