Der Bundespräsident hat eine Rede gehalten. Die Grazer Kleine Zeitung hat sie verdienstvollerweise im Wortlaut abgedruckt. Van der Bellen erklimmt darin nicht ganz die rhetorischen Höhen, in denen der einschlägig vorbelastete Bundeskanzler sprachspielerisch zu wandeln pflegt. Aber wer einmal die geistige Fallhöhe zwischen dem Redner und dem Angesprochenen ausloten wollte, dem bot sich in Bregenz eine gute Gelegenheit.

Alexander Van der Bellen
Fand deutliche Worte in seiner Rede bei den Bregenzer Festspielen: Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
APA/Dietmar Stiplovsek

Sprach der Bundespräsident von dem grundsätzlichen gesellschaftlichen Problem einer Trennung der Bevölkerung in normale und andere Menschen und dessen fatale Folgen, hielt ihm der Bundeskanzler entgegen, es müsse okay sein, wenn andere gern Schnitzel essen. Für einen Normalen im Sinne Johanna Mikl-Leitners war das ganz schön tolerant gegenüber dem Staatsoberhaupt.

Man soll in eine Rede nicht hineininterpretieren, was der Redner vielleicht gar nicht anklingen lassen wollte. Aber in österreichischen Ohren klingt eben etwas an, wenn jemand eine "Theorie der zerbrochenen Fenster" aus der amerikanischen Sozialtheorie der 1980er-Jahre importieren zu müssen glaubt. Warum in die Ferne schweifen, liegt das Böse doch so nah? Auch in Österreich gingen einmal viele Fensterscheiben zu Bruch, als Parteipolitiker, die sich und ihren Anhang als die Normalen deklarierten, die anderen zu vertreiben und dann zu ermorden begannen. Von diesem intellektuellen und künstlerischen Aderlass hat sich Österreich bis heute nicht erholt.

Vorgetäuschte Lernwilligkeit

Geblieben sind dem Land Parteipolitiker, die Lernwilligkeit vortäuschen, indem sie ihre alten rassistischen Ideale auf andere Andere übertragen, deswegen aber noch lange nichts dabei finden, wenn Neonazis ihre Blut-und-Boden-Botschaft ins Braunauer Schwimmbad tragen. Allein einem Badegast aus Deutschland ist ins Auge gestochen, dass gegen diese Provokation einzuschreiten wäre, er war als Polizeibeamter dafür aufgeklärt genug. Was man von seinen österreichischen Kollegen nicht behaupten kann, die den Kampf gegen Neonazismus an den Bademeister delegierten. Eine oberösterreichische Lösung, dort werden Warnungen vor neonazistischen Umtrieben zur Kenntnis genommen. Aber nicht mehr.

Dass Van der Bellens nationale Lagebeurteilung die diversen Anhänger der neuen Normalität wenig begeistert hat, ist verständlich. Wirklich niederschmetternd war das Urteil, das aus dem elfenbeinernen Turm der Presse auf den Bundespräsidenten herniederfuhr. Dieser Turm ist eine feste Bastion der türkisen ÖVP, von der aus eine Leitartiklerin gestern Hals über Kopf für die Zimmerreinheit der Kunst in die Bresche sprang: "Die politische Normalität hat bei Festspielen nichts zu suchen", befand sie. "Die doppelte Gemeinheit an Van der Bellens Rede: Sie benutzt die parteipolitische Kritik am Wort ‚normal‘, um Festspiele in die Normalität des politischen Alltags hinunterzuziehen." Na sowas! Der Bundespräsident ein Banause?

Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Kunst mit Recht ständig im Mund zu führen und sie gleichzeitig rein von jeder Politik halten zu wollen ist reine Heuchelei. Den größeren Teil seiner Rede hat Van der Bellen übrigens dem Abarbeiten einer politischen To-do-Liste gewidmet, was die anwesenden Koalitionspolitiker mindestens ebenso schmerzlich berührt haben sollte wie die Anspielung auf Glasscherben. (Günter Traxler, 20.7.2023)