Collage: DerStandard/ Armin Karner

Der Kanzler verband den neuen Normalitätsspin der ÖVP mit einer Geste der Toleranz. Die Diskussion darüber sei "völlig surreal" und "viel zu aufgeregt", sagte Karl Nehammer in dieser Woche im "ZiB 2"-Interview. Ob er damit auf seinen Vize Werner Kogler anspielte, der das Buhlen um "die große Mehrheit der Normaldenkenden" (© Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner) als "präfaschistoid und brandgefährlich" bezeichnete, blieb unklar.

Er wolle "die Politik der vielen machen", erläuterte Nehammer. Denn es sei "schlecht, wenn die Ausnahme die Regel wird". Als lebensnahes Beispiel zog er dazu die populäre Schnitzelkarte: "Kein Mensch muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn er ein Schnitzel isst", meinte der Regierungschef. Gleichzeitig aber gelte: "Es ist voll okay, wenn man sich entscheidet, vegan zu leben."

Status quo

Viele Schnitzelesser und -esserinnen, wenige vegan lebende Menschen: Beim Thema Ernährung läuft Normalität à la Nehammer auf den Erhalt des Status quo in Österreich hinaus. Das lässt sich urtümlich und gemütlich an und wurde vom Bundeskanzler in weiterer Folge auch auf das Autofahren ausgeweitet: Niemand müsse ein schlechtes Gewissen haben, das Auto zu nehmen, "wenn er auf das Auto angewiesen ist", sagte er. Bei näherer Betrachtung tendieren diese Aussagen jedoch politisch betont nach rechts.

"Im Grunde läuft diese Normalitätsdiskussion auf einen ‚culture war‘ hinaus, sozusagen einen 'Krieg' über kulturelle Werte, wie ihn in Europa etwa der ungarische Staatschef Viktor Orbán sowie in den USA die Republikaner führen", sagt die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak. Es werde ein Konflikt um die Vorherrschaft von Werten und Verhaltensweisen vom Zaun gebrochen, mit dem Ziel, von unangenehmen und komplexen Problemen abzulenken und gleichzeitig bestimmte politische Inhalte aus dem bis dato rechten Spektrum weiter hinein in den Mainstream zu rücken. Ins Reich der Normalität.

Auch ideengeschichtlich ist die "Normalität" wenig vertrauenserweckend. Der Ort, an dem Normaldenkende einträchtig nebeneinander grasen – gefleckte, einfärbige, aufbrausende wie ruhige –, wird als idyllischer Flecken, als Hort wohligen Einverständnisses fantasiert. Mit Blick auf die Gesellschaft fußt Normalität auf dem Gemeinplatz. In dessen Nähe wähnt sich die Mehrzahl der Menschen am besten, weil sie hier unter Garantie schmerzfrei aufgehoben ist.

Schnitzel
Nicht nur Ex-Kanzler Kurz war um das leibliche Wohl seiner Wähler besorgt.
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Ablenkungsstrategie

In Österreich sei die dahinterliegende Absicht "eine Ablenkungsstrategie von anderen Themen, die die Menschen legitimerweise sehr beschäftigen" – und die von der ÖVP nicht im Sinne dieser Gruppen bedient würden, sagt Wodak: "Statt über die Konflikte rund um die fortgesetzte Teuerung zu reden und als Regierungspartei wirksame Maßnahmen zur Abhilfe vorzuschlagen, oder über nötige Änderungen angesichts der Klimakrise, wird zum Beispiel das Thema Gendern in den Vordergrund geschoben", sagt die Diskurs- und Populismusforscherin.

Im Grunde handle es sich dabei um ein Vorgehen nach Dead-Cat-Strategie – ein bekannter PR-Kniff, der den einschlägig geschulten Beratern und Beraterinnen der ÖVP gut bekannt sein dürfte, meint Wodak. Werde ein Problem unangenehm und schwer zu bewältigen, werfe man zur Ablenkung eine symbolische tote Katze – ein anderes Thema – auf den Tisch: "Alle, von Politikern anderer Couleur bis hin zu den Medien, werden nur noch über die tote Katze sprechen."

DeSantis und das neue Normal

In den USA wurde die Normalität in vielen Bereichen bereits in Richtung rechts neu definiert. Der Kulturkrieg ist nach vier Jahren Präsidentschaft von Donald Trump und der Bestellung rechtskonservativer Höchstrichter auf Lebenszeit weit gediehen. Hinzu kommt jetzt das Erstarken von Trumps parteiinternem Herausforderer, dem Hardliner Ron DeSantis. DeSantis, dem es unter anderem gelungen ist, die in den USA starke christlich-fundamentalistische Lobby auf seine Seite zu ziehen, führte als Gouverneur von Florida das "Don’t say gay"-Gesetz ein: eine Regelung, die den Unterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität an allen öffentlichen Schulen verbietet.

Unterstützung dafür bekommt er etwa von den Moms for Liberty, einem Zusammenschluss von Eltern, die sich gegen eine "Indoktrinierung" ihrer Kinder durch LGBTIQ-Inhalte wehren. Catalina Stubbe, Mitglied des Führungsteams der Gruppe, sprach sich zuletzt etwa gegen ein Kinderbuch aus, das die Geschichte von zwei männlichen Pinguinen erzählt, die ein Küken aufziehen: eine wiederkehrende Verhaltensweise unter Pinguinen.

Homosexuelles Paar mit Baby
Normal oder besonders? Catalina Stubbe vergleicht homosexuelle Paare mit Pinguinen.
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Besondere Pinguine

Dass Pinguine gleichgeschlechtliche Paare zur Nachwuchsaufzucht bilden, sei ihr schon klar, sagte Stubbe, "aber das ist etwas Besonderes, das ist nicht normal". Warum solle ein Kind lernen, dass derlei normal sei? Normal sei, wenn ein Mann und eine Frau ein Kind großzögen: "Lass dich nicht verwirren!", fordert die radikalisierte Mutter von vier Kindern.

Im Vergleich zu solch offener Realitätsverleugnung kommt die Normalitätsoffensive der ÖVP fast dezent daher. Gestartet wurde sie von der in Niederösterreich gemeinsam mit der FPÖ regierenden Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Ihr fortgesetztes Nein zu Genderstern, Gender-Gap oder Genderdoppelpunkt begründete sie in einem Standard-Gastkommentar mit den angeblichen Wünschen der "normal denkenden Mitte der Gesellschaft". Für sie habe eine solche Frage "keine Priorität".

Ebenso seien auch Menschen, die Klimakleber ablehnen, nicht alle gleich gegen den Klimaschutz. Das Problem, sagt Mikl-Leitner, sei vielmehr: "Der Hausverstand scheint manchmal abgeschafft. Der gesunde Menschenverstand stört wie langweiliger Sand das gut geölte Empörungsgetriebe der politischen Ränder." Hier zeigt sich ein wichtiger Aspekt der neuen schwarzen Normalitätssuche. Sie versteht sich als Gegenentwurf zu zwei Extremen, der linken wie der rechten. Mikl-Leitners Kritik gilt Kreisen, "in denen an Chemtrails und Echsenmenschen geglaubt wird", ebenso wie gesellschaftlichen Gruppen, die die "EU als grüne NGO" missverstünden.

Radikale Agenda

Die anderen, die "schweigende Mehrheit", indes scheinen im Dunstkreis des "Normalen" in einer Art Traumschlaf befangen zu sein. Hilfen und Entlastungen für die Wirklichkeitsbewältigung werden von Experten zugeliefert, von Koryphäen ihres Fachs und Zierden ihrer jeweiligen Wissensdisziplin. Von  so mancher ihrer umwälzenden Problemlösungskraft hat noch kein Normaldenkender jemals etwas ihm spontan Einleuchtendes gehört.

Hinzu kommt – nicht aus der niederösterreichischen, sondern eher von der Wiener ÖVP sowie von Generalsekretär Christian Stocker – eine radikale antimarxistische Agenda; wohl eine Reaktion auf die jüngsten Erfolge dezidiert linker Parteien wie KPÖ plus und den Aufwind traditioneller sozialdemokratischer Diskurse infolge der Übernahme des SPÖ-Vorsitzes durch Andreas Babler. Marxismus wird mit Diktatur und dem Gewaltregime des Stalinismus gleichgesetzt: als das Unnormale per se. Ob dies aus Unwissen oder Strategie geschieht, sei dahingestellt. Dabei, so die Linguistin Wodak, sei Karl Marx’ Analyse des Kapitalismus eine ökonomische Theorie wie viele andere, die weiterhin an den Universitäten gelehrt und kritisch gelesen und diskutiert werde.

Schild mit Auto
Welche Fahrgeschwindigkeit in ÖSterreich darf als "normal" gelten?
IMAGO/Manngold

Krisenjahre der ÖVP

Welche Erwartungen und Hoffnungen jedoch verknüpft die ÖVP mit ihrem neuen Normalitätskurs? Wo glaubt sie, die Repräsentanten dieser scheinbaren Vernunft der gesellschaftlichen Mitte zu finden? Anders gefragt: Wer soll eine Partei mit einem solchen Spin wählen?

Untersuchungen der Stimmungslage in Österreich in den vergangenen Krisenjahren können darauf wohl eine Antwort geben. So stellte der jüngste Österreichische Demokratiemonitor des Sora-Sozialforschungsinstituts aus dem Herbst 2022 fest, dass die Zufriedenheit mit dem politischen System stark gesunken ist. Anlässlich des ersten Demokratiemonitors 2018 hatten 64 Prozent der repräsentativ befragten Personen gemeint, dass das System sehr gut oder gut funktioniere. 2022 waren es nur noch 34 Prozent. Die endemischen Korruptionsskandale und das zum Teil wenig professionelle Management der Corona-Pandemie dürften massiven Tribut gefordert haben.

Besonders eingebrochen war dabei das Vertrauen in politische Parteien. 2018 hatten 13 Prozent der Befragten keine Partei nennen können, die ihre Anliegen vertrete. 2022 waren es bereits 38 Prozent. Ein überdurchschnittlicher Anteil dieses verlorengegangenen Glaubens an politische Gruppierungen im parlamentarischen System war dabei in den mittleren und oberen Etagen der Gesellschaft zu finden gewesen: für eine Partei des konservativen Bürgertums wie die ÖVP eine höchst problematische Entwicklung.

Unsichere Kantonisten

Konkret bezeichneten sich im Vergleich zu 2018 im Herbst 2022 nur noch halb so viele Angehörige mittlerer und hoher Einkommensschichten als mit den Institutionen zufrieden. Im einkommensmäßig obersten Gesellschaftsdrittel war die Entwicklung besonders krass. Der Wert war in diesem Zeitraum von 85 auf 45 Prozent gefallen.

Für die ÖVP bedeutet das: Ein beträchtlicher Teil potenzieller Wählerinnen und Wähler sind zu unsicheren Kantonisten geworden. Könnte der Partei der vom Zaun gebrochene Normalitätsdiskurs Teile dieses Vertrauens zurückholen?

Ähnlichkeiten

Auf alle Fälle stehen Mikl-Leitner, Nehammer und Co mit diesem Versuch in Europa nicht allein da. Das geografisch am nächsten liegende Exempel ist dabei in Deutschland zu finden, bei einer Partei, die keine christlich-sozialen Wurzeln wie die ÖVP hat. Sondern die, laut dem deutschen Verfassungsschutz, Anlass zur Beobachtung rechtsextremer Umtriebe gibt.

Die Alternative für Deutschland (AfD) änderte vor der Bundestagswahl 2021 ihren Leitspruch. "Deutschland, aber normal" lautet ihr neuer Slogan. In ihren betont harmonistisch inszenierten Kampagnenvideos werden jede Menge Deutungen des neuen Leitworts geboten: "Ist heute ‚normal‘ auf einmal das, was uns fehlt?", heißt es da, und: "Normal ist, morgens aufzustehen und seinen Job zu machen, normal ist eine Heimat, sind sichere Grenzen, ja, und normal ist auch Deutschland."

Vom Gebrauch des Begriffs "Volk"

Tatsächlich jedoch drückt der Begriff Normalität ein problematisches Verhältnis zwischen Wissenden und Unwissenden, Professionellen und Laien aus. Laut dem französischen Meistersoziologen Pierre Bourdieu, 1982 in "Der Begriff ,Volk‘ und sein Gebrauch", sieht sich der Experte gegenüber herkömmlichen Laien im Recht und daher auch im Vorteil. Das kommt nicht von ungefähr und gebiert Misstrauen. Experten besitzen das Monopol auf ein bestimmtes, von möglichst vielen nachgefragtes Wissen. Umso skeptischer werden sie allen Anwandlungen von "Spontaneität" begegnen. Einzig und allein der professionelle Sachverständige ist der legitime Produzent von Gütern und Dienstleistungen – solchen, die jedermann und jedefrau benötigt.

Beim Laien, der von alledem recht wenig versteht, entspringt dem initialen Frust in weiterer Folge kolossales Misstrauen. Irgendwann heißt es dann über den Sachverständigen, der lasse das "rechte Gespür" für das "Volk" vermissen. So jemand handle "eigennützig". Die Mehrheit der Normaldenkenden besteht aus potenziell Geprellten, aus angeblich, und vor allem insgeheim, übers Ohr Gehauenen.

Die Geschichte der Moderne gleicht so einem Prozess anhaltender, allseitiger Entfremdung. Auf der einen Seite findet man die gar nicht so sehr schweigsame Mehrheit. Ihr gegenüber steht eine qualifizierte Minderzahl handverlesener Technokraten. Erstere leiden an Konfusion, Letztere an Burnout. Beide eint, dass sie verwaltet und beherrscht werden. Niemand ist da, der beiden gemeinsam eine Zusammenschau ihrer gesellschaftlichen Verstrickung liefern könnte.

Generation klebt auf der Straße
Wird der Klimwandel neue Realität sein? Davor fürchtet sich nicht nur die Letzte Generation.
REUTERS/NADJA WOHLLEBEN

Pandemie und Rechtsempfinden

Die Pandemie hat die Sichtbarwerdung entsprechender Frustrationen befördert. Immer wieder irrlichtern Vorstellungen vom "gesunden Rechtsempfinden" durch die Öffentlichkeit. Diesem Appell, dem Augenschein zu trauen, steht kongenial die Rede vom "gesunden Volksempfinden" unseligen Angedenkens zur Seite.

Das Stigma der Durchschnittlichkeit kann zum Emblem werden. Das Schielen nach der Zustimmung durch möglichst viele "Normaldenkende" rückt ausgerechnet das "Populäre", und mit ihm alles "Volkstümliche" und Naturwüchsige, zurück in den Blick. Es beanspruchen, so Bourdieu, meist gerade diejenigen Volksnähe, die grob daherreden. Besagte Nähe soll ihnen eine Art Vorkaufsrecht auf alle "Normalen" einräumen. Behutsam nähren sie den Horror vor einem künstlerischen Lebensstil ("Pornokratie") oder auch vor schwer erklärlichen Allüren.

Banausentum

Das vielfach verbreitete Misstrauen gegenüber "moderner Kunst" basiert auf solchem, aus Gründen des Wählerfangs oft nur geheucheltem, Banausentum. Kampagnen gegen Gendersensibilität, die Ablehnung neuer, liberalerer Schreibgepflogenheiten: Alle diese Abwehrmaßnahmen sind Früchte vom nämlichen Baum, dem wenig paradiesischen mit Namen Borniertheit.

"Einen Scheißdreck weiß die Forschung!" Eine solche Meinung, unlängst geäußert im neuen, der Höhe des Stammtischs angeglichenen ORF-3-Redeformat Jetzt red’ I, heischt Zustimmung. Gemeint sind alle diejenigen, die es eh schon immer auch nicht besser gewusst haben. Sich selbst würden sie dabei, mit völligem Recht, als Normaldenkende deklarieren. Es ist nämlich längst zur Normalität geworden, dass nichts mehr normal ist. (Irene Brickner, Ronald Pohl, 16.7.2023)