Drei wichtige Schlüsse lassen sich aus den drei Nachwahlen zum Unterhaus ziehen, zu denen englische Wähler am Donnerstag aufgerufen waren. Erstens hat England, der bei weitem größte und daher wichtigste Landesteil, ebenso die Nase voll von der Misswirtschaft der konservativen Regierung unter Premier Rishi Sunak wie der Rest des Königreichs. Scheinbar mühelos haben die Oppositionsparteien Labour im nordenglischen Selby und die Liberaldemokraten in Somerton im Westen des Landes gewaltige Tory-Mehrheiten zerstört und die Mandate gewonnen.

Steve Tuckwell Tories Nachwahlen
Steve Tuckwell hält für die Tories den Wahlkreis Uxbridge and South Ruislip.
AP/Jordan Pettitt

Gewiss haben Nachwahlen ihre eigenen Regeln. Dennoch: Schon die Hälfte der Wählerwanderung vom Donnerstag würde Labour bei der nächsten, spätestens im Herbst 2024 anstehenden Unterhauswahl eine Mehrheit und damit den Machtwechsel sichern. Der ist längst überfällig.

Die zweite Lehre lautet: All jene laufen ins Leere, die politische Veränderung am Wahlsystem festmachen. Wenn es darauf ankommt, wissen die Menschen auch im britischen Mehrheitswahlrecht sehr genau, wie sie ihre Stimme am zielgenauesten abgeben müssen. In Somerton versammelten sich die Antikonservativen hinter der Liberalen Sarah Dyke, in Selby wählten sie den gerade einmal 25-jährigen Labour-Mann Keir Mather.

Brisante Ulez-Initiative

Drittens – und das ist die bittere Nachricht des Tages – lassen sich mit plumper Propaganda gegen den längst überfälligen ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft erhebliche Punkte machen. Seinen Premierminister oder gar dessen wenig erfolgreiche Politik erwähnte der siegreiche Kandidat der Tories in Boris Johnsons altem Wahlkreis Uxbridge mit keinem Wort, als er um seine Analyse gebeten wurde. "Sadiq Khan hat Labour diese Wahl gekostet", sagte Steve Tuckwell und bezog sich damit auf die sogenannte Ulez-Initiative des Londoner Bürgermeisters, von August an auch in den Randbezirken der Hauptstadt alte Stinkerautos mit einer Gebühr zu belegen. Bisher gilt die Regelung nur in den innerstädtischen Vierteln.

Man mag darüber streiten, wie viel besser die Londoner Luft wirklich wird, wenn dort weniger Fahrzeuge mit schlechten Abgaswerten unterwegs sind. Auch lässt Khans Kommunikation mit der Bevölkerung zu wünschen übrig. Aber der emotionale Protest gegen Ulez hat Symbolcharakter: Der dringend nötige Abbau von Emissionen verursacht Kosten und nötigt die Menschheit zur Verhaltensänderung und zum Verzicht, nicht zuletzt aufs liebgewonnene Auto. Dazu sind, bei anhaltend steigenden Lebenshaltungskosten, viele Leute nicht bereit.

Neue Erdölförderung

Insofern mag Sunaks Regierung den richtigen Instinkt haben, wenn sie sich zunehmend von Großbritanniens Vorreiterrolle beim Abgasabbau verabschiedet. Gerade erst haben Hunderte von Fachleuten den Regierungschef gemahnt: Nachdem die Insel zunächst durch den raschen Verzicht auf Kohleverbrennung schneller war bei der CO2-Reduktion als andere G7-Industrieländer, ist sie seit 2015 zurückgefallen. Der Energiegigant Vattenfall hat den Plan für ein neues Off-shore-Windkraftwerk auf Eis gelegt, weil der Garantiepreis für den zukünftig erzeugten Strom zu niedrig liegt. Gleichzeitig haben die Konservativen neuer Erdölförderung in der Nordsee, ja sogar einem neuen Kohlekraftwerk grünes Licht gegeben.

Die verfehlte Energiepolitik zählt zur langen Liste verheerend schlechter Politik, die nach 13 Jahren an der Macht aus den Londoner Regierungsstuben kommt. Eine unmenschliche Haltung gegenüber Flüchtlingen, hartherzige Maßnahmen gegen sozial Schwache, die nachhaltige Ausmergelung des Gesundheitssystems NHS, viel zu wenig sozialer Wohnungsbau, mangelnde Investitionen ins Militär bei gleichzeitigem Festhalten an Atomwaffen – die Liste von Versäumnissen und Fehlentwicklungen ist lang.

"Historischer Sieg"

Oppositionsführer Keir Starmer freut sich zu Recht über den "historischen Sieg" in Selby. Nur Labour könne dem Land "seine Hoffnung, seinen Optimismus und seine Zukunft" zurückgeben. Uxbridge aber sollte Starmer auch eine Warnung sein: Wer schmerzhafte Maßnahmen plant, muss Geduld zeigen und Überzeugungsarbeit leisten. (Sebastian Borger, 21.7.2023)