Anne Otto, Diplompsychologin und Autorin, schreibt in ihrem Gastkommentar über das (manchmal schwierige) Verhältnis zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern.

Erinnern Sie sich an eine Lebenssituation, in der Sie Entscheidungen getroffen haben, die für Sie wichtig waren, für Ihre Eltern aber verletzend, unerträglich oder empörend? Egal ob es eine Berufs-, Partner- oder Wohnortwahl war, eine den Familienwerten entgegenstehende Liebe zu Sport, Kunst, Finanzen oder nur diese eine unmögliche Frisur – besinnt man sich auf solche Momente, spüren viele noch immer eine Mischung aus Stärke, Trotz und Einsamkeit. Und spätestens im Rückblick wird deutlich, dass das der Stoff ist, aus dem Eigenständigkeit entsteht. Es sind kostbare Momente. Legen Sie sie nicht einfach unter "Spätpubertät" ad acta. Denn es ist kein Privileg der Jugend, die Eltern auch mal zu enttäuschen. Um sich persönlich weiterzuentwickeln, gehören Distanzierung und Disharmonie lebenslang immer wieder in die Eltern-Kind-Beziehung.

Diese Erkenntnis hat persönliche und gesellschaftliche Relevanz: Wir leben heute im Zeitalter der Langlebigkeit. Alle werden älter. Und auch die familiären Beziehungen zwischen den Generationen währen länger. Waren es laut dem Sozialwissenschafter Hans Bertram zu Beginn des 20. Jahrhundert nur etwa 15 bis 20 Jahre, die Väter und Kinder gemeinsam erlebten und 40 Jahre, die Mütter und ihre Kinder zusammen hatten, sind es heute 50 bis 60 Jahre, Tendenz steigend.

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Die Zeitspanne, in der Eltern Zeugen der Lebensführung ihrer Kinder sind, wird immer länger. Das führt auch zu neuen Spannungen.
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Wir werden mit unseren Eltern alt. 50-jährige Managerinnen und 60-jährige Umweltaktivisten stellen Teile des eigenen Lebens auf das der Eltern ein – wenigstens ein bisschen.

Alter Groll

Psychologisch gesehen bietet es sich unter diesen Umständen an, die Verbindung zu Vater und Mutter auch im Erwachsenenalter bewusst weiterzuentwickeln, sie auf anstehende Phasen vorzubereiten, sich zu Reizthemen zu positionieren. Sorgfalt lohnt sich, denn die Beziehung bleibt ambivalent – ist gleichermaßen von Nähe- und Distanzwünschen geprägt. Erwachsene Kinder spüren neben Verbundenheit immer auch Verpflichtungen gegenüber den Eltern, fühlen sich leicht schuldig, hegen mehr oder weniger alten Groll.

In dieser Gemengelage braucht es Ansatzpunkte, wie Eltern und Kinder sich auf Augenhöhe begegnen können. Im Konzept der "filialen Reife" haben Gerontopsychologen verschiedene Faktoren beschrieben, die es möglich machen, dass Kinder im Erwachsenenalter nachreifen, im Kontakt mit den Eltern souveräner werden. Zu den Fähigkeiten zählt unter anderem ein angemessener Umgang mit Schuldgefühlen. Und die Bereitschaft, die Eltern gelegentlich zu enttäuschen.

Etwa in Bezug auf eigene Angelegenheiten – schließlich sind Eltern heute über viele Jahrzehnte Zeugen der Lebensführung ihrer Kinder. Kein Wunder, dass man den Eltern oft nicht nur das Ende der ersten langen Partnerschaft, sondern auch den Schlussstrich unter Beziehung zwei, drei, vier beichten muss. Und dass Vater und Mutter auch von Berufswechseln, Finanzkrisen, emotionalen Einbrüchen Wind bekommen. Ob Sie hier in der Rolle der älteren Eltern oder der erwachsenen Kinder mitlesen – es ist oft gar nicht die vermeintlich marode Familie, in der über die Jahre so viele Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten hochspült werden: it’s the demography, stupid. Sie ist der Grund, warum wir immer wieder abweichende Standpunkte und Lebenskonzepte voneinander mitbekommen und voreinander vertreten müssen.

Eigenständigkeit behaupten

Übrigens dürfen auch erwachsene Eltern ihre Kinder enttäuschen. Sobald diese volljährig sind, gilt gleiches Recht für alle: Es ist okay, wenn eine 70-Jährige lieber mit einem neuen Partner durch die Welt reist, als Enkel zu hüten, oder ein 80-Jähriger in seinem Haus bleiben will, auch wenn er dort eventuell stolpern könnte. Auch Eltern emanzipieren sich von den Vorstellungen ihrer Kinder, machen Entwicklungen durch, mit denen Töchter und Söhne nicht einverstanden sind. Und betagte Eltern, die hilfebedürftiger werden, dürfen, so lange es irgendwie geht, ihre Eigenständigkeit behalten und behaupten.

Apropos Pflegethemen: Dort ist die Fähigkeit, Erwartungen enttäuschen zu können, besonders wichtig. Der Sozialpädagoge Karl Stanjek rät: "Niemand sollte Pflegetätigkeiten aus Schuldgefühlen heraus übernehmen." Erwachsene Kinder dürfen sich in Ruhe überlegen, was sie an Hilfe geben können und wollen und was nicht. Gespräche darüber werden leichter, wenn man ein bisschen pubertären Widerspruchsgeist parat hat – zumindest dann, wenn die eigene Grenze erreicht ist. Für Töchter und Schwiegertöchter kann das ein Überlebenstool werden. Bis heute übernehmen sie einen Großteil der Pflege- und Sorgearbeit rund um alte Eltern.

Enttäuschen zu können fördert also die eigene Unbestechlichkeit. Wer fürchtet, dass dadurch Beziehungen auseinanderfallen, der irrt. Oft werden Verbindungen intensiver, wenn alle Seiten mit ihren Bedürfnissen gehört werden und sich weiterentwickeln können. Dass dann nicht alle Erwartungen erfüllt sind, sollten wir aushalten: Schließlich sind wir alle erwachsen. (Anne Otto, 23.7.2023)