Ich saß am Boden des Raumes auf einer bunten Decke, vor mir lag mein fünf Wochen altes Baby, das mit den Beinchen strampelte und das ich zwar liebte, das mich in diesen ersten Wochen seines Lebens aber auch an meine Grenzen brachte. Aber nicht nur mein Säugling forderte mich heraus, auch mein Umfeld. Ich bekam Ratschläge von allen Seiten, spürte Druck und die vielen Erwartungen anderer.

Zwei Generationen, Mutter und Tochter
Haben Großeltern ein Recht auf Mitbestimmung? Viele Fragen stellen sich Kindern erstmals, wenn sie selbst Eltern werden.
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So ging es nicht nur mir. Rund um mich saßen Frauen mit ihren Babys, die zur Krabbelgruppe gekommen waren, um sich auszutauschen. Viele erzählten an diesem Tag, dass die Vorstellungen und Ratschläge ihrer Familien, allen voran ihrer eigenen Eltern, sie schier überforderten. Sie erzählten von Großmüttern, die, ohne zu fragen, nach der Geburt der Enkel bei ihren Kindern einzogen, von Streitigkeiten, weil die Großeltern ihre Enkel öfter sehen wollten oder sie zum Missfallen der Eltern von oben bis unten abknutschten, und von ständigen Einmischungen: "Zieh deinem Kind Socken an!", "Wie lange willst du denn noch stillen?", "Ein bisschen Zucker schadet doch nicht!".

Wenn ein Kind geboren wird, das sagen Hebammen immer wieder, kommt mit ihm auch eine Mutter neu auf diese Welt. Doch nicht nur im kleinsten Familienkreis ändert sich etwas, Eltern werden auch zu Großeltern, und dadurch verschieben sich in vielen Familien die Dynamiken. Auch mir war das nicht entgangen. Ich musste mich nicht nur in einer Mutterrolle einfinden, mit meinem neu gewonnenen Beschützerinstinkt klarkommen, sondern mich auch als Kind meiner Eltern neu positionieren und meine Beziehung und die Grenzen zu ihnen neu austarieren. Und ich stellte mir viele Fragen: Haben Großeltern ein Recht auf Zeit mit ihren Enkeln und auf Mitbestimmung? Darf ich mich gegen ungebetene Ratschläge wehren? Und was schulde ich meinen Eltern überhaupt?

Letztere ist eine Frage, die die Menschheit schon seit vielen Jahren beschäftigt. Bereits Aristoteles und John Locke haben darüber philosophiert. In früheren Zeiten haben Menschen Kinder bekommen, um ihre Altersvorsorge abzusichern. Und auch heute noch stellen sich viele Menschen die Frage, ob sie für ihre Eltern verantwortlich sind, wenn diese alt und gebrechlich sind und Hilfe brauchen – immerhin haben sie sich selbst viele Jahre um ihre Kinder gekümmert, sie zur Welt gebracht, großgezogen, durchgefüttert und ihnen – im besten Fall – ein gutes Leben ermöglicht.

Keine Schulden

Doch in der heutigen Zeit hat sich vieles verändert. Kinder kommen in den allermeisten Fällen auf die Welt, weil Eltern sich aus freien Stücken dafür entscheiden. Und so ist etwa die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch der Meinung, Kinder von heute würden ihren Eltern nichts schulden, abgesehen davon, sie mit dem Respekt zu behandeln, mit dem wir allen Menschen begegnen sollten, erklärt sie in ihrem Buch "Warum wir unseren Eltern nichts schulden".

"Eltern können Dankbarkeit nicht einfordern, aber Kinder haben durchaus gute Gründe, ihren Eltern dankbar zu sein", sagt die systemische Psychotherapeutin Katharina Henz. Und auch Bleisch schreibt in ihrem Buch, dass viele Kinder ihren Eltern für eine glückliche Kindheit dankbar sein werden und sich dann wohl aus freien Stücken erkenntlich zeigen wollen. Dennoch sind viele Eltern-Kind-Beziehungen ambivalent, und Kinder dürfen auch Kritik empfinden. Sie können dankbar sein für alles, was ihre Eltern für sie getan haben, und gleichzeitig das Gefühl haben, es sei nicht alles gut gelaufen. Zumal es auch Kinder gibt, die von ihren Eltern nicht gut behandelt wurden.

Miriam Trilety ist systemische Psychotherapeut*in und erklärt die Hintergründe, die zu Erwartungen zwischen den Generationen führen: Unsere Eltern würden uns bestmöglich weitergeben, wie wir in der Welt überleben können und wie bestimmte Dinge gemacht werden. Später, wenn Kinder erwachsen werden, lernen sie, dass es auch andere Wege gibt, etwas zu regeln, als jene, die man aus der eigenen Familie kennt. Dadurch komme es zu Diskrepanzen, zu Verschiebungen, zu Konflikten, die allerdings auch ganz wichtig seien. "Schließlich verändert sich unsere Welt ständig. Und irgendwann sind die eigenen Eltern nicht mehr da, dann müssen wir dennoch lebensfähig sein ohne das Daheim." In der Praxis erlebt Trilety es dennoch sehr oft, dass Menschen dem System, in dem sie aufgewachsen sind, nichts entgegensetzen wollen. "Die Leute fühlen sich so schuldig und verpflichtet, dass sie notwendige und gesunde Grenzen nicht ziehen." Gleichzeitig sollten Eltern auch anerkennen, dass ihre Kinder nicht so sind wie sie selbst.

Drei Generationen, Mutter, Großmutter und Enkeltochter
Jüngere Generationen trauen sich heute eher, Probleme zwischen den Generationen anzusprechen.
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Viele erwachsene Kinder hätten Sorge, dass die Eltern dann "böse sind oder doch nicht auf die Enkelkinder aufpassen". Vereinbarungen seien aber im Familienkontext ganz wichtig, etwa zu klären, dass man nicht unangekündigt vorbeikommen darf oder wie viel Kontakt einem gerade guttue. Viele erwachsene Kinder hätten das Gefühl, dafür verantwortlich zu sein, wie die Eltern sich fühlen, und wollen sie nicht kränken, sagt Trilety. Dabei dürfe man nicht auf sich selbst vergessen. Ist man überfordert? Schränkt einen die Rücksichtnahme auf die eigenen Eltern im Leben oder in den eigenen Beziehungen ein?

Letztlich gehe es um Respekt vor den Bedürfnissen der anderen. Beziehungen seien ein ständiger Dialog und ein Verhandeln, ein darüber Sprechen, was für beide funktioniert. Was brauchst du? Was brauche ich? Man könne seinen Eltern solche Gespräche zumuten, sagt Trilety. Oft passiere gar nichts Schlimmes, wenn man gut kommuniziere.

Auch hier unterscheiden sich die Generationen, weiß Henz. Früher wurde den Älteren automatisch die Kompetenz zugesprochen. Heute wisse man, "dass, nur wer älter ist, nicht automatisch gescheiter ist". Die jüngeren Generationen seien demokratischer erzogen worden, hätten mehr Mut, die Eltern infrage zu stellen, und würden sich auch eher trauen, mit ihnen in den Dialog zu treten und Probleme anzusprechen.

Grenzen setzen

Oder Grenzen zu setzen. So hätten Eltern, gerade im Umgang mit ihren eigenen kleinen Kindern, das Recht, einige Dinge zu definieren und Regeln aufzustellen, etwa dass ihre Kinder ab 16 Uhr keinen Zucker mehr essen sollen, sagt Henz. In einer guten Beziehung würden sich hier die meisten Großeltern, wenn sie auf die Enkelkinder aufpassen, daran halten. Allerdings sollte jungen Eltern auch klar sein, dass Großeltern keine Dienstleister sind: "Wer seine Kinder den Großeltern anvertraut, muss davon ausgehen, dass sie es gut meinen und machen."

Sie rät dazu, liebevoll zu kommunizieren, wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt: "Ich weiß, bei euch war das anders" – Sätze wie dieser könnten die eigenen Eltern irritieren und so rüberkommen, als würde man ihnen nicht vertrauen. Stattdessen seien Ich-Botschaften ratsam: "Ich mache das, weil ich mein Kind gut kenne und weil wir es als Eltern für wichtig erachten."

Auch die Problematik der ungebetenen Ratschläge kennt Henz aus ihrem Beratungsalltag: Das Problem sei, dass junge Eltern ihren eigenen Eltern oft aus dem Alltag mit den Kindern erzählen und diese sich dann eingeladen fühlen, ihre Ratschläge weiterzugeben, die dann nicht immer gut aufgefasst werden. Eine gute Lösung sei hier, einfach nachzufragen: Was ist das Beste, das ich jetzt für dich tun kann? Hättest du gerne einen Ratschlag? Wer sich hier bemüht um eine gute Beziehung zu den Kindern, wird auch eine gute Beziehung zu den Enkeln haben.

Henz rät jedenfalls davon ab, "Konsequenzen" gleich mitzuliefern oder zu drohen, etwa dass man mit den Enkelkindern dann nicht mehr auf Besuch kommt. Stattdessen könne man erklären, dass man sich von etwas gestört oder gekränkt gefühlt habe. Wichtig sei letztlich nur, Dinge überhaupt anzusprechen, oft seien beim Gegenüber keine bösen Absichten dahinter.

Aus freien Stücken

Viele Expertinnen und Experten halten nichts vom Begriff der Schuld im Familienkontext. Schuldigkeit sei ein Ballast für Beziehungen, schreibt auch Bleisch und erklärt, dass Beziehungen, in denen sich Menschen aus freien Stücken umeinander bemühen und kümmern, besser funktionieren. Wenn Kinder ihren Eltern für ihre Erziehung und Ernährung etwas schulden, stellt sich zwangsweise die Frage, wann diese Schuld abgearbeitet ist? Und die Fragestellung lässt zudem außer Acht, dass auch Kinder ihren Eltern viel geben – und nicht nur nehmen, auch wenn die ersten Jahre zehrend sind.

Statt auf Schuld, ist ein guter Ratschlag, sich auf Dankbarkeit zu konzentrieren und auf die Liebe, die man füreinander empfindet. Beides führt im besten Fall dazu, dass Großeltern sich nicht aufdrängen, aber immer da sind, wenn ihre Kinder und Enkelkinder sie brauchen. Dass erwachsene Eltern froh sind, dass ihre Kinder Großeltern haben, die sie lieben. Und letztlich könnten alternde Eltern ihren Kindern versichern, dass diese sich später nicht um sie kümmern müssen. Dann würden die Kinder vielleicht merken, dass sie es aber dennoch und aus freien Stücken gerne tun wollen – aus Liebe und ganz ohne Schuldgefühle und Druck.

Jedenfalls, da sind sich alle Expertinnen und Experten einig, zahle es sich aus, sich um glückliche Beziehungen zu den eigenen Eltern und Kindern zu bemühen. Das gelingt auch den meisten. Mir ebenfalls. Die neuen Rollen im Familiengefüge sind mittlerweile eingespielt, und eine gewissen Gelassenheit hat sich eingestellt. Manches machen Großeltern eben anders, na und? Dann bekommt mein Kind halt manchmal noch kurz vor dem Abendessen ein Eis von der Oma. Heute komme ich damit klar. (Bernadette Redl, 22.7.2023)