Mariahilfer Straße
Christian (im Foto mit der blauen Kappe von hinten zu sehen) lebt seit 20 Jahren immer wieder auf der Mariahilfer Straße.
Helena Lea Manhartsberger

Der Frust steht dem Polizisten ins Gesicht geschrieben. Er steigt aus dem Auto, stellt sich vor die drei Männer, die vor einer Apotheke sitzen. Neben den Männern stehen prall gefüllte Rucksäcke und Plastiksackerln auf der steinernen Liegefläche. Der Polizist sagt genervt: "Jetzt bin ich schon wieder hier. Wie oft muss ich noch sagen, dass ihr nicht hier abhängen sollt?"

Sie kennen einander, der Polizist und die drei Männer: Christian, 50 Jahre, Jürgen, 41, und Dominik, der 37 ist. Die drei Männer leben auf der Straße, auf der Mariahilfer Straße. Niemand schreit, nur die Stimmung ist merkbar auf beiden Seiten aufgeheizt.

"Wohin sollen wir denn?", fragt Christian den Polizisten, nicht minder gereizt: "Im Park kann ich nicht Tschick schnorren. Dann heißt es gleich, die Familien und Kinder fühlen sich belästigt."

"Dann geh woanders hin!"

"Wohin denn?"

"Woanders hin! Dort rüber! Aber hier könnt ihr nicht bleiben. Ihr blockiert den Eingang zur Apotheke. Wir kriegen Meldungen, dass ihr Leute belästigt."

Tageszentrum für obdachlose Menschen mit großer LGBTQ-Flagge
Tageszentrum Obdach Axxept für junge obdachlose Menschen in Mahü-Nähe.
Helena Lea Manhartsberger

Der Polizist zieht wieder ab. "Ihr schiebt uns ständig hin und her!", flucht Christian ihm hinterher. "Wie Viecher behandelt ihr uns, nicht wie Menschen!"

Es ist ein Nachmittag Mitte Juli, die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel herab und verdrängt allmählich den Schatten der Bäume an der Kreuzung von Mariahilfer Straße und Barnabitengasse. Die Geschichten der Männer hier ähneln einander, sie handeln zumeist von schlecht bezahlten Jobs, zerstrittenen Familien, in die Brüche gegangenen Beziehungen.

Immer wieder stoßen Männer dazu, man begrüßt sich mit Handschlag, redet kurz, zieht weiter oder ruht eine Weile. Einer, der neu dazukommt, nimmt einen großen Schluck aus einer Wodkaflasche, reicht sie weiter und nippt an seinem Fruchtsaft. Ein anderer dreht Runden um den Block und macht dabei immer wieder vor der Apotheke halt. Im Vorbeigehen bittet er Passantinnen und Passanten um Geld. Dazwischen macht er Pause, hockt sich hin oder legt sich auf den Boden.

An ihm wuseln Menschen, Kinderwagen, Roller und Fahrräder vorbei. Die längste Einkaufsstraße des Landes ist auch in den Sommermonaten stark besucht – wenn nicht von Wienerinnen und Wienern, dann von Menschen, die auf Besuch in der Stadt sind. Die Mariahilfer Straße ist knapp vier Kilometer lang. Sie reicht vom Museumsquartier über den Westbahnhof bis kurz vor das Technische Museum.

Bekannt ist die Straße – und vor allem ihr innerer Abschnitt vom Gürtel stadteinwärts – nicht nur für die vielen Geschäfte und Lokale. Der Umbau zur Fußgänger- und Begegnungszone ab dem Jahr 2014 war das größte und umstrittenste stadtplanerische Vorhaben der Hauptstadt seit der Verkehrsberuhigung in der Wiener Innenstadt Anfang der 1970er-Jahre. Heute gilt es als Erfolgsgeschichte, ähnliche Projekte in der Gegend folgten.

"Problemgebiet" Mahü

Dieser Tage ist die "Mahü" wieder in aller Munde. In den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat sie der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer. Seit einem guten Jahr produziert der ehemalige Spitzenpolizist Videos von den angeblich gefährlichsten Hotspots der Hauptstadt.

Das jüngste "Problemgebiet", das der nicht-amtsführende Stadtrat ausgemacht hat: die Mariahilfer Straße und das dortige "zunehmende Problem mit Wohnsitzlosen". So formuliert es Mahrer. Wie sehen es andere?

Sozialarbeiterin Susanne Peter
Helena Lea Manhartsberger
Zwei Männer sitzen auf einer Bank
Oben: Sozialarbeiterin Susanne Peter auf der Mariahilfer Straße. Sie kennt Jürgen und Dominik (unten) schon lange.
Helena Lea Manhartsberger

Christian, Jürgen und Dominik zum Beispiel? Christian, Mechaniker, Jobs im Lager und im Bühnenbau, geschieden, zwei Kinder, erzählt: Er sei in den vergangenen 20 Jahren immer wieder hier gelandet. Er habe eigentlich eine Wohnung, das Türschloss sei aber kaputt. Seit Mai könne er sie deshalb nicht betreten. Vor kurzem sei sein Hund gestorben. Überfahren vom Auto. "Das war zu viel", sagt Christian. Das Leben auf der Straße sei schwieriger geworden für obdachlose Menschen, sagt Christian: Man schlafe immer mit einem offenen Auge. Er erzählt von jungen Menschen, die auf sie einprügeln, von anderen Obdachlosen, die sie bestehlen – das habe es früher nicht gegeben. "Früher war mehr Zusammenhalt."

Dominik, ebenfalls geschieden, ebenfalls Vater, hat zum zweiten Mal in seinem Leben keine permanente Unterkunft. Er sagt: "Früher waren wir zu zwanzigst hier, da wussten wir gar nicht, wohin mit dem ganzen gespendeten Essen. Jetzt sind es viel mehr Leute, man sieht überall wen liegen." Momentan seien es vor allem Menschen aus dem Ausland, die neu dazustoßen, sagt er. Und Jürgen erzählt, 15 Jahre sei er "weg gewesen". Vor zwei Jahren dann starb seine Mutter. Nun ist er wieder hier auf der Mariahilfer Straße. Das "Hin-und-her-verschoben-Werden", von einem Platz oder Park zum nächsten, das passiere jetzt öfter als früher.

Rund um die "Mahü" kümmern sich eine Handvoll Einrichtungen um obdachlose Menschen. Um die Ecke der drei Herren befindet sich die Gruft: Die Caritas-Einrichtung bietet warmes Essen, Duschmöglichkeiten, einen Platz zum Schlafen, saubere Kleidung, außerdem sozialarbeiterische und therapeutische Betreuung. Susanne Peter hat sie mitgegründet. Von hier aus wird das Notwendigste an Bedürftige auf der Straße verteilt. Im Sommer sind das unter anderem Wasser, Sonnencreme, Kappen oder Isomatten. Die 48 Schlafplätze seien jede Nacht besetzt.

Sonnecreme, Wasser und ein paar andere Dinge liegen auf einer Decke
Ein Hitze-Paket der Caritas, bestehend aus Isomatte, Sommerschlafsack, Sonnencreme, Trinkwasser und einer Kopfbedeckung.
Helena Lea Manhartsberger

Platz im öffentlichen Raum

Seit fast 30 Jahren ist Peter als Sozialarbeiterin unterwegs. Oft kämen zu finanziellen Problemen und Schicksalsschlägen psychische Erkrankungen, eine Drogen- oder Alkoholsucht hinzu, erzählt sie. Generell nehme die Armut, ihrer Wahrnehmung nach, seit Jahren zu, sagt sie. Den Menschen gehe es tendenziell schlechter.

Peter will sich nicht politisch äußern, sie sagt nur so viel: "Der öffentliche Raum gehört jedem." Und dieser werde im Sommer knapper, weil mehr Menschen hinausströmen. Die Baustellen im Zuge des U-Bahn-Ausbaus schränkten den Platz noch einmal ein.

Mahrer hat Obdachlosigkeit in Wien nicht zum ersten Mal zum Thema gemacht. Auf seinem Instagram-Account finden sich ältere Aufnahmen von Einrichtungen für Wohnungslose und Anlaufstellen für Suchtkranke entlang der U-Bahn-Linie U6. Im Falle der Mariahilfer Straße beklagt Mahrer, dass immer mehr Wohnungslose – "meist aus anderen EU-Staaten" – sich hier niederließen, um "zu campieren und zu trinken". In einer Aussendung schrieb der türkise Landesparteichef, anders als "die Linke" akzeptiere er "diese Entwicklungen" nicht. Er wolle "hinschauen" und Verbesserungen bringen.

Die FPÖ sekundierte sogleich: Die "linke Sozialromantik" lasse die "einst florierende Einkaufsmeile" und "den einst bürgerlichen Bezirk Mariahilf zu einem sozialen Brennpunkt verkommen", verkündete Bezirksparteiobmann Leo Kohlbauer in einer Aussendung. Bei der politischen Konkurrenz links der ÖVP sorgen Mahrers Wien-Analysen stets für Empörung. Seine Kritik am Brunnenmarkt – österreichische Stände würden verdrängt – teilen dem Vernehmen nach selbst in der türkisen Landesgruppe nicht alle.

"Es ist ein Stück weit mehr geworden. Aber es fällt eben auf, wenn es nicht mehr fünf Menschen sind, sondern 30." - Markus Reiter, Bezirksvorsteher im siebenten Bezirk

Neue und alte "Brennpunkte"

Die Orte, die Mahrer als ehemaliger Vize-Polizeipräsident in Wien ins Visier nimmt, sind nicht willkürlich gewählt. Die Schutzzone auf dem Keplerplatz in Favoriten etwa, wo die Drogenkriminalität zuletzt zugenommen hatte, wurde erneut verlängert. Dennoch ist Wien, das attestieren ihr mehrere Studien, immer noch eine der sichersten Großstädte weltweit.

Nirgendwo ist Wien dabei so bobo wie im sechsten und siebenten Gemeindebezirk. Der Bezirksvorsteher in Mariahilf ist Markus Rumelhart, ein SPÖ-Politiker. Sein Amtskollege in Neubau ist der Grüne Markus Reiter. Das traditionell linksliberale, eher junge Publikum in den beiden Bezirken sei gegenüber wohnungslosen Menschen kaum feindlich eingestellt, sagen beide. Das zeigt sich auch im Gespräch mit Anrainerinnen und Anrainern: Selbst, wer von Problemen berichtet, von in Kellern eingerichteten Schlaflagern, abmontierten Türschnallen, von Spritzen und ausgeschütteten Suppen vor der Haustür, ja selbst von eingetretenen Wohnungstüren, betont dabei fast immer: Die meisten Obdachlosen seien völlig harmlos, Ausreißer gebe es halt.

So fasst auch Bezirksvorsteher Markus Reiter die Rückmeldungen zusammen: "Die fragen eher: Wie kann ich helfen?" Reiter war selbst Mitbegründer der Obdachlosen-Hilfseinrichtung Neunerhaus und jahrelang ihr Obmann und Geschäftsführer. Er sagt: "Wir leben in einer Millionenstadt, und in Millionenstädten gibt es Obdachlosigkeit. Wer das verneint, verkennt die Realität."

Es sei aber dennoch nicht zu übersehen, dass es "ein Stück weit mehr geworden" sei. Es handle sich aber immer noch um "nur ein paar Dutzend Menschen, nicht hunderte" – im Verhältnis zu Wiens Größe sei das wenig. Aber ja, es falle eben auf, "wenn es nicht mehr fünf, sondern 30 Menschen sind". Dass Menschen in prekären Situationen vor Wohnungs- und Geschäftseingängen nächtigen und dort auch ihre Notdurft verrichten, höre er etwa vermehrt. Auch aus dem Büro von Markus Rumelhart heißt es, die "Herausforderungen sind uns natürlich bekannt".

Runder Tisch für die "Mahü"

Seit dem Ende der Pandemie hätten sich die Aufenthalts- und Schlafplätze Obdachloser vom Esterházypark in Richtung Mariahilfe Straße verschoben – weil sich wohnungslose Personen dort sicherer fühlten, wo mehr Menschen unterwegs sind. Das mache die Obdachlosigkeit für viele sichtbarer.

"Wenn die Menschen dann den ganzen Tag dort verbringen, Alkohol konsumieren, kann es am späteren Nachmittag schon einmal unangenehmer werden für die Geschäfte, das ist uns klar", sagt ein Sprecher Rumelharts. Deshalb seien die Bezirksvorsteher von 1060 und 1070 auch auf alle verantwortlichen Stellen der Stadt, auf Politik, Exekutive und Sozialarbeit zugegangen, um Lösungen zu finden, erzählt Reiter. Im September sollen konkrete Ansätze präsentiert werden. Darauf hofft auch Kurt Wilhelm, Obmann des Vereins Interessengemeinschaft Kaufleute im siebenten Bezirk. Er sagt, er plädiere stark dafür, besonnen und sachpolitisch an die Sache heranzugehen: "Wir Kaufleute haben großes Verständnis für die Leute, wir kennen viele davon, weil sie ja vor unseren Geschäften sind." Wer sozial schwach sei oder ein Suchtproblem habe, dem müsse dringend geholfen werden.

Schild auf dem steht
Das beschriftete Schild des jungen Obdachlosen Tizian.
Helena Lea Manhartsberger

Es sei aber zugleich auch "nicht angenehm", wenn Verkäuferinnen fast täglich Urin und Kot vor den Geschäften wegputzen müssten und wenn Leute bedrängt würden, sagt Wilhelm. Es handle sich nicht um Einzelfälle, sondern "eine Häufung von Vorfällen". Die Sorge, Kundschaft zu verlieren, sei groß.

Der Leiter der Wiener Wohnungslosenhilfe im Fonds Soziales Wien, Markus Hollendohner, sagt, eine Zunahme von obdachlosen Menschen registriere er nicht. Die Zahlen würden im Jahresvergleich eher leicht sinken – eine Entwicklung, die er mit den Hilfsangeboten in Wien erklärt. Rund 12.400 Personen nützen jährlich die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe: Sie reichen von Beratung, Betreuung über Aufenthalts- und Schlafplätze. Kooperiert wird mit 30 Partnerorganisationen. Zentral ist in Wien der aus den USA stammende "Housing First"-Ansatz: Priorität hat, wohnungs- beziehungsweise obdachlosen Menschen direkt und einfach Zugang zu leistbaren Wohnungen zu verschaffen. Die versteckte Wohnungslosigkeit steige – Menschen, die ihre Wohnung verlieren und bei Freunden oder Familie unterkommen. Das treffe speziell auf Frauen zu.

Hollendohner sagt auch, er sehe auf der Mariahilfer Straße selbst nicht unbedingt eine neue Situation: "Es gab hier immer armutsgefährdete, marginalisierte Menschen. Es gibt mehr Menschen mit Suchterkrankung. Darum ist auch die Straßensozialarbeit der Suchthilfe stark vertreten. Aber nicht alle sind obdachlos." Hinzu komme: "Unsere Zielgruppe ist sehr heterogen, sie verändert sich ständig."

"Fragen Sie doch einmal, warum"

Unweit von Christian, Jürgen und Dominik entfernt sitzt ein junger Mann mit zerzaustem blonden Haar, ohne Schuhe, auf dem Boden. Er hat die Beine überkreuzt, den Rücken lehnt er an eine schmale Wandnische zwischen einem Geschäft, aus dem die Seife bis auf die Straße hinaus riecht, und einem Laden, in dem Vitamine und Mineralstoffe angeboten werden. Er liest in einem Buch. Sein Name ist Tizian, er ist 28 Jahre alt.

Kurz vor Ausbruch der Pandemie hat er in Kärnten, wo er herkommt, einen Klub eröffnet. "Nicht der ideale Zeitpunkt", sagt er. Drei Monate später ging ihm das Geld aus. Seit gut drei Jahren verbringt er seine Tage und Nächte hier. Vor ihm steht ein Papierbecher mit ein paar Münzen darin, daneben ein Plakat aus Pappe, auf das er in Großbuchstaben geschrieben hat: "Fragen Sie doch mal, warum".

Tatsächlich bleiben an diesem Nachmittag einige stehen und fragen nach. (Anna Giulia Fink, 22.7.2023)