Tel Aviv – Israels Parlament hat einen zentralen Teil zum Umbau der Justiz im Land verabschiedet. Eine Mehrheit der 120 Abgeordneten stimmte am Montag für einen Gesetzesentwurf, der die Handlungsmöglichkeiten des Höchsten Gerichts einschränkt. Er ist Teil eines größeren Gesetzesvorhabens, das von Kritikern als Gefahr für Israels Demokratie eingestuft wird.

Video: Israels Regierungschef Netanjahu stimmt nach Herz-OP über Justizreform ab
DER STANDARD

Die Abstimmung im israelischen Parlament in Jerusalem am Montag war von heftigen Protesten überschattet. Vermittlungsversuche von Staatspräsident Isaac Herzog um einen Kompromiss waren zuvor gescheitert. "Mit dieser Regierung ist es unmöglich, Vereinbarungen zu treffen, die die israelische Demokratie bewahren", hatte Oppositionsführer Yair Lapid laut Medienberichten vor der Abstimmung gesagt. Die Regierung wolle "den Staat auseinanderreißen, die Demokratie zerstören, die Sicherheit Israels, die Einheit des Volkes Israel und unsere internationalen Beziehungen zerstören", so Lapid weiter.

Höchst umstrittene Reform

Nach dem Entschluss können die Abgeordneten dem Obersten Gericht nun die Möglichkeit entziehen, Regierungsentscheidungen als "unangemessen" einzustufen und so außer Kraft zu setzen. Die Klausel war daher einer der umstrittensten Bestandteile der Justizreform.

Kritiker fürchten eine willkürliche Besetzung hochrangiger Regierungsposten sowie eine Begünstigung von Korruption. Konkret verdächtigen sie Netanjahu, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft, seine Verurteilung abwenden zu wollen. Seit mehr als einem halben Jahr spaltet der geplante Justizumbau weite Teile der Gesellschaft. Die Gegner des Vorhabens fürchten weiter, dass sich Israel fundamental verändern könnte. Manche warnen gar vor der Einführung einer Diktatur. Während der Beratungen in der Knesset brach die Oppositionsabgeordnete Orit Farkasch-Hacohen in Tränen aus. "Unser Land steht in Flammen. Ihr habt das Land zerstört, ihr habt die Gesellschaft zerstört."

Wasserwerfer gegen Demonstranten eingesetzt

Die Polizei setzte unterdessen Wasserwerfer gegen Demonstranten ein, um hunderte Gegner der Reform auseinanderzutreiben, die am Montag den Eingang zum Parlament in Jerusalem blockierten. Einige seien festgenommen worden. Schon am Samstag waren Hunderttausende gegen die Justizreform auf die Straßen gegangen. Die Organisatoren gaben die Zahl der Teilnehmer am Samstag mit mehr als einer halben Million an. Israel hat zehn Millionen Einwohner.

Ein Bündnis von rund 150 der größten israelischen Unternehmen streikte. Die Geschäfte in Einkaufszentren blieben am Montag geschlossen, teilten die beiden großen Shoppingcenterbetreiber Azrieli und BIG mit. Die beiden größten israelischen Banken, Leumi und Hapoalim, stellten es ihren Beschäftigten frei, an Demonstrationen teilzunehmen, ohne auf Lohnzahlungen verzichten zu müssen.

Demonstranten und Demonstrantinnen sitzen auf einer Wiese vor dem Parlament in Jerusalem. Der Wasserwerfer der Polizei trifft sie.
Die Polizei setzte Wasserwerfer gegen die Demonstranten und Demonstrantinnen in Jerusalem ein.
AP/Ariel Schalit

Netanjahu aus Krankenhaus entlassen

Kurz vor der Abstimmung war Regierungschef Netanjahu aus dem Krankenhaus entlassen worden. Der 73-jährige Regierungschef war am Samstagabend wegen Herzrhythmusstörungen eingeliefert worden und hatte bei einer Operation in der Nacht auf Sonntag einen Herzschrittmacher bekommen.

Später erklärte er in einer Videoansprache, er sei bei "exzellenter Gesundheit" und werde am Montag zur Debatte über die Justizreform ins Parlament zurückkehren. Präsident Herzog hatte Netanjahu am Sonntag im Krankenhaus in der Hoffnung besucht, eine Verständigung zwischen der Regierung und der Opposition vermitteln zu können. "Dies ist ein Notfall. Es muss eine Einigung erzielt werden", hatte Herzog am Sonntag gesagt.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht hinter einem Rednerpult.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will die Reform trotz Kritik durchboxen.
AFP/JACK GUEZ

Nach seiner Vermittlung hatte die Regierung die Justizreform im März verschoben. In den darauffolgenden monatelangen Verhandlungen konnten Regierung und Opposition keine Verständigung erzielen. Netanjahu, der wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht steht, war Ende Juni den Gegnern der Reform entgegengekommen und hatte angekündigt, den umstrittensten Teil fallenzulassen. Dieser hätte es dem Parlament ermöglicht, Urteile des Obersten Gerichtshofs aufzuheben.

Die Pläne der Regierung belasten auch die Beziehungen Israels mit dem Verbündeten USA. Die US-Regierung hat Netanjahu gedrängt, bei einer Justizreform einen breiten Konsens anzustreben. Einer vom Fernsehsender Kan veröffentlichten Umfrage zufolge sind 46 Prozent der Israelis gegen die Reform, 35 Prozent befürworten sie, und 19 Prozent sind unentschlossen.

Eine Menschenmasse in Tel Aviv ist zu sehen. Sie unterstützt Premier Netanjahu.
Eine Demonstration pro Netanjahu am Sonntag in Tel Aviv.
REUTERS/OREN ALON

Widerstand im Militär gegen Reform

Zuletzt nahm auch der Widerstand im Militär zu. Etwa 10.000 Reservisten kündigten an, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, sollte die Regierung ihre Pläne nicht stoppen. Berichten zufolge könnte dies die Einsatzbereitschaft des Militärs erheblich beeinträchtigen.

Am Freitag hatten bereits mehr als 1.000 Reservisten der Luftwaffe mit Dienstverweigerung gedroht. Daraufhin gab Verteidigungsminister Joav Galant bekannt, sich um einen "Konsens" zu bemühen.

Kurz erklärt: Die geplante Justizreform in Israel
AFP

Israels Institut für Nationale Sicherheitsstudien schrieb am Sonntag: "Der Schaden für die nationale Sicherheit Israels ist Realität geworden." (APA, red, 24.7.2023)