Léon und Louise sind 17 und verlieben sich heftig, aber der Krieg zwingt sie auseinanderzugehen. Léon heiratet, wird Vater. Louise fängt an, bei einer Bank zu arbeiten. Sie führen getrennte Leben, aber so richtig vergessen können sie einander nicht. Sie denkt jeden Tag an ihn und er jeden Tag an sie. Bis sie sich zufällig in der Pariser Métro wiedersehen, durch die Fensterscheibe. Léon gelingt es, Louise zu finden, die Liebe flammt wieder auf und sie schlafen miteinander. Doch dann beschließen sie, dass es bei einem Treffen bleiben soll, schreiben bloß noch Briefe. Bis zum Ende ist unklar, ob sie doch noch zusammenkommen, doch noch zusammen alt werden. Léon und Louise sind die Protagonisten eines gleichnamigen Romans des Schweizer Schriftstellers Alex Capus. Er hat die Geschichte seines Großvaters aufgeschrieben.

Nicht ohne Grund ist die unvergessene Liebe ein beliebter Stoff für Romane und Filme: Sie ist schön und schrecklich zugleich. Die Gedanken daran holen einen immer wieder ein, obwohl man längst alle Fotos gelöscht und alle Liebesbriefe in tief in der Schublade vergraben hat. Denn Gedanken kann man nicht einfach vergraben und nicht löschen. Vor allem nicht jene an diese eine Liebe, die sich auf einem ganz anderen Intensitätslevel abspielte als die davor und danach.

"The one that got away"

"Ich liebe meinen Ex nach Jahren immer noch", lautet eine häufige Suchanfrage auf Google. Zeitschriften geben Tipps und Tricks, um mit der längst getrennten Beziehung endlich abzuschließen. Wohl deshalb, weil sie so häufig ist, gibt es für die unvergessene Liebe im Englischen auch einen Begriff: "The one that got away" – der eine, der einem irgendwie entwischt ist. Doch wieso gibt es dieses Phänomen? Wieso fällt es bei manchen Beziehungen so schwer, sie loszulassen, weiterzumachen?

Große Liebe, wahre Liebe, Liebespaar
Manchmal ist es ganz egal, ob man in einer guten neuen Partnerschaft oder glücklicher Single ist: Es gibt Menschen, die kann man einfach nicht vergessen.
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Ein Anruf bei der Psychotherapeutin Barbara Fluch. In ihrem Institut namens Beziehungsweise in der Steiermark arbeitet sie mit Paaren. Im Gespräch erklärt Fluch: Charakteristisch für die unvergessene Liebe sei, dass sie sich meist in der Jugend oder im jungen Erwachsenenalter abspiele. "Es wird dann das erste Mal eine Liebe zu einem Partner oder einer Partnerin erlebt. Das ist eine Form von Beziehung, die sich von einer Freundschaft und auch von einer Eltern-Kind-Liebe unterscheidet." Man fühlt sich verbunden auf eine andere und aufregende Art. Oft haben Menschen dann auch das erste Mal Sex. Junge Liebe ist frei, leicht, unverdorben und voller Hoffnung. Und wenn sie endet, tut das speziell weh. "Der Schmerz setzt sich besonders tief in unserer Erinnerung fest", sagt Fluch. Ähnlich wie es in dem Popsong The First Cut is the Deepest besungen wird.

Prägende Phase

Die unvergessene Liebe geschehe oft in einer prägenden Phase, "einer Zeit der Identitätsfindung", wie Fluch sagt. So schildert auch eine gewisse Tanja in einer deutschen Zeitschrift eine Affäre, die sie auch nach 30 Jahren einfach nicht loslässt: Sie war eine Medizinstudentin Anfang 20, als sie für mehrere Monate nach Indien ging, um in einem Krankenhaus zu arbeiten. Eine "beeindruckende und prägende Erfahrung", schreibt sie. "Die ganzen Eindrücke, Gerüche, Geräusche, die Musik, der Tanz, die Straßenszenen, das Zusammentreffen der Religionen, die Blumen und die Städte, es war faszinierend und erschreckend. Ich habe es gleichzeitig sehr geliebt und gehasst." An diesem spannenden Ort, in dieser spannenden Zeit traf sie ihn, einen jungen indischen Arzt, von dem sie sich sofort angezogen fühlte. Sie reisen gemeinsam durchs Land, "es war sehr, sehr intensiv". Doch seine Eltern hießen die Beziehung offenbar nicht gut. Als Tanja nach Deutschland zurückkehren musste, sahen sie einander nie wieder. Doch Tanja kann den Mann nicht vergessen, obwohl sie längst verheiratet ist und drei Kinder hat.

Liebespaar; junges Paar; Mann und Frau
Oft sind es die ersten großen Lieben, die schwer zu vergessen sind, weiß die Psychotherapeutin Barbara Fluch.
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Typischerweise begann diese Liebe mit einer heftigen Verliebtheit. "Man ist von Hormonen überschüttet, und alle unsere Bedürfnisse werden erfüllt", sagt Fluch. Es kribbelt herrlich im Bauch, das Glückshormon Dopamin flutet das Gehirn. Wir fühlen uns eins mit dem anderen. Was noch eine große Rolle spielt: Die Beziehung hatte oft gar nicht erst die Chance zu scheitern, denn häufig endete sie auf ihrem Höhepunkt. Vielleicht hätte man sich mit der Urlaubsbekanntschaft im Alltag gar nicht verstanden? Vielleicht wäre die Jugendliebe ein schlechter Partner fürs Leben geworden? Oft kam es nicht einmal so weit, dass man die Makel des oder der anderen kennenlernt. Man hat nie erfahren, dass sie ihre Sachen überall liegen lässt oder er jeden Tag schlecht gelaunt ist, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Zur Gewohnheit, Langeweile, zur Sexflaute oder zur emotionalen Entfremdung konnte es ebenfalls nie kommen. Es war aus, als es am schönsten war.

Verklärung der Vergangenheit

Dazu kommt: Wir haben die Tendenz, Dinge im Nachhinein zu verklären. Während wir uns an die schlechten Eigenschaften nach einer Zeit nicht mehr so richtig erinnern, behalten wir die positiven im Kopf. So kann es zum Beispiel vorkommen, dass wir den oder die Verflossene rückblickend zum Beispiel als verständnisvoller oder einfühlsamer einschätzen. Daran erinnern wir uns besonders, wenn es in der aktuellen Beziehung kriselt. Wir vergleichen dann den Partner mit dem Ex, der uns dagegen plötzlich so perfekt vorkommt. Das ist natürlich ungerecht, weil die Bilder nicht nur idealisiert, sondern auch veraltet sind, wie Fluch, die Psychotherapeutin, erklärt: "Wir haben im Kopf, wie jemand mit 17 war. Aber mit 45 haben sich die meisten lange weiterentwickelt." Nicht zu zuletzt sei die Trauer um die verflossene Liebe auch eine Trauer um den Menschen, der man selbst einmal war.

Beim Bedauern der verflossenen Liebe lassen wir uns auch liebend gerne selbst täuschen, sagt Fluch: Der vermeintlich großen Liebe nachzutrauen kann nämlich leichter sein als an aktuellen Beziehungsproblemen zu arbeiten. Das Verharren in der Vergangenheit sei eine Art Ablenkung von der Gegenwart. Mitschuld an der Idealisierung haben Hollywoodfilme, indem sie vermitteln: Es gibt die große Liebe, und sie findet irgendwie ihren Weg. "Aber die Vorstellung, dass alles gut ist, wenn man nur den richtigen Partner oder die richtige Partnerin findet, ist natürlich eine Illusion."

Wie lässt man los?

Die ewige Nostalgie kann natürlich auch gefährlich werden. Schließlich hält sie einen davon ab, im Hier und Jetzt zu leben. Und womöglich steht sie auch einer neuen, glücklichen und erfüllten Beziehung im Weg. Aber wie schafft man es, mit der unvergessenen Liebe abzuschließen? Ist eine Begegnung die Lösung, wie bei Léon und Louise?

Fluch rät davon ab: "Meist ist das wenig hilfreich." Es könne passieren, dass man die andere Person trifft und wieder Erwartungen hegt. "Und die andere Person sie wieder nicht erfüllt und nur der Schmerz zurück ist." Eine alte Liebe könne auch nicht so einfach aufgewärmt werden. Es gäbe zwar erfolgreiche Beispiele und auch einige prominente Beispiele wie König Charles und seine Camilla, aber diese seien eher die Ausnahme.

Nichtsdestoweniger könne die alte Liebe etwas bewirken: Sie kann eine wichtige Hinweisgeberin sein. Schließlich sage sie viel über die Erwartungen aus, die jemand an eine Beziehung hat. Daher ist die Frage "Gibt es für Sie eine große Liebe?" eine, die Fluch ihren Klientinnen und Klienten häufig stellt. Die Antwort offenbare, was sie sich wünschen – und was ihnen in ihrer derzeitigen Beziehung womöglich abgeht: Geborgenheit, emotionale Verbundenheit, Verlässlichkeit oder das Gefühl, geliebt zu werden. "Das sind wichtige Bedürfnisse, die in der alten Liebe oft gelebt werden konnten." Anstatt ihr ewig nachzuhängen, sollte man also das Beste aus ihr mitnehmen. Und dankbar sein, diese Erfahrung gemacht zu haben. (Lisa Breit, 1.8.2023)