Gibt es einen Vorhang? Das ist der erste Gedanke, als ich durch das Schaufenster auf das Bett schaue. In einem Geschäftslokal beim Meidlinger Markt in Wien verzierte einst eine Zuckerbäckerin Punschkrapferln. Heute ist hier, direkt im Erdgeschoß, ein Hotelzimmer untergebracht

Seit einigen Jahren kann man beim Meidlinger Markt übernachten.
Seit einigen Jahren kann man, wie unsere Autorin, beim Meidlinger Markt übernachten.
Helena Lea Manhartsberger

28 Hotelzimmer der Marke "Grätzlhotel" gibt es in Wien in ehemals leerstehenden Erdgeschoßlokalen, darunter auch frühere Lampen- und Kinderschuhgeschäfte. Das Versprechen: ein authentisches Erlebnis mit Lokalkolorit und abseits von Sisi-Kitsch und Menschenschlangen – und damit genau das, wonach sich viele Urlaubende in Zeiten von Overtourism sehnen: Individualität. Aber findet sich die im Schaufenster?

So viel vorab: Ja, es gibt einen Vorhang. Er ist türkisblau, und man kann ihn zuziehen, wenn man genug vom Urlaub in der Auslage hat und nicht mehr gesehen werden will – oder nichts mehr sehen will. Noch ist es aber nicht so weit. Nach meiner Buchung habe ich den Code für den Schlüsselsafe beim Haustor zugeschickt bekommen. Ich tippe ihn ein, der Schlüssel plumpst mir in die Hand, ich öffne die Ladentür. Das Zimmer sieht auf den ersten Blick nicht anders aus als ein Zimmer in einem Designhotel – dunkle Wände, puristische Einrichtung, großes Bett. An der Wand hängt natürlich ein Fernseher – bloß: Wer braucht den, wenn ich vom Geschehen auf der Straße nur durch eine Glasscheibe getrennt bin?

Kein Small-Talk nötig

Gerade geht draußen ein Mann mit zwei Hunden vorbei, aus einem geparkten Auto plärrt laute Musik zu mir herein, eine Frau hält in der einen Hand ihr Handy und hört laut Musik, in der anderen ein Croissant. Sie nehmen keine Notiz von der Urlauberin in der Auslage. Die Tische beim gegenüberliegenden Marktstand sind gut gefüllt. Der Vinylladen hat wegen "Hitze und Urlaub" derzeit nur eingeschränkte Öffnungszeiten. Draußen knallt die Sonne auf den Asphalt. Nur im Hotelzimmer ist es kühl, die Klimaanlage surrt.

Die meisten Menschen nehmen keine Notiz von der Urlauberin im Geschäftslokal.
Die meisten Menschen nehmen keine Notiz von der Urlauberin im Geschäftslokal.
Helena Lea Manhartsberger

Das ist bei über 30 Grad Außentemperatur natürlich angenehm. Trotzdem frage ich mich: Was tu ich hier eigentlich? Der deutsche Soziologe Martin Hecht hat sich mit den Themen Urlaub und Individualismus in seinen Büchern Irgendwie haben wir uns das anders vorgestellt und Gruppe und Graus beschäftigt. Er sagt: "Wir leben in einer Zeit, in der alle ihr eigenes Ding machen wollen", auch im Urlaub, der seit Jahrzehnten als Statussymbol gilt, aus dem man sich über Instagram und Co in Szene setzen kann. Hier werden schon lange keine Fotos mehr vom Eiffelturm oder anderen klassischen Wahrzeichen verschickt. Alles schon gesehen. Heute muss es origineller sein, damit man bei der Rückkehr ins Büro etwas zu erzählen hat.

"Kein Mensch will grau sein, alle wollen besonders sein", sagt Hecht. Darum zieht das Versprechen "abseits ausgetretener Pfade". Die nervigen Touristen, die in vor Wiener Kaffeehäusern und Sisi-Attraktionen Schlange stehen, sind bekanntlich immer die anderen. Der Haken: Es ist längst Mainstream geworden, sein eigenes Ding zu machen, und nicht mehr weiter ungewöhnlich – und auch die Tourismusindustrie ist auf dieses Bedürfnis längst aufgesprungen. Der Massentourismus hat die unentdeckten Pfade ebenfalls schon ausgetrampelt. Hecht spricht von einem "Pseudo-Individualismus".

Leben wie ein "Local"

Airbnb verspricht Urlaubenden zum Beispiel, zu leben wie ein "Local". Nur ist das heute häufig gar nicht mehr der Fall. Die Wohnungen für Urlauberinnen und Urlauber wurden zum Investmentprodukt, in denen noch nie ein "Local" auch nur eine Nacht verbracht hat.

Geschäftsführerin Theresia Kohlmayr hatte die Idee zur Nutzung der Erdgeschoße während des Studiums.
Geschäftsführerin Theresia Kohlmayr hatte die Idee zur Nutzung der Erdgeschoße während des Studiums.
Helena Lea Manhartsberger

Theresia Kohlmayr ist die Chefin des Unternehmens Urbanauts, das die Grätzlhotels betreibt. Durch die Entwicklung von Airbnb sei vor 15 Jahren klar geworden, dass es eine Zielgruppe für Individualismus bei Hotels gibt, daraus und aus einem Trend der Designhotels haben sich die Grätzlhotels entwickelt. Im Unterschied zu Airbnb wird dabei aber kein Wohnraum von Urlaubenden in Beschlag genommen, sondern leerstehende Geschäftsflächen adaptiert und umgewidmet. Die Zugänge in die Hotelzimmer erfolgen nicht über das Stiegenhaus, damit sich Bewohnerinnen und Bewohner nicht gestört fühlen. Der Eigentümer der Flächen lässt diese nach Plänen eines Architekten adaptieren und verpachtet diese dann für 20 Jahre an Grätzlhotel, "löffelfertig", wie Kohlmayr es nennt – also inklusive Bettzeug, Kaffeehäferl und, ja, zugehöriger Löffel.

Aber warum schläft man in einem Geschäftslokal? "Viele haben den Einheitsbrei vom Frühstücksbuffet satt, wo alles gleich schmeckt", sagt Kohlmayr. "Man will die Stadt mehr spüren und mehr erleben." Unter den Gästen im Grätzlhotel seien Businessreisende, die irgendwann genug vom Smalltalk an der Rezeption und von den immer gleichen Hotelzimmern haben. Aber auch Abenteuerlustige, die sich extra vorab erkundigen, in welchem der Zimmer das Schaufenster am größten ist. Generell, sagt Kohlmayr, gebe es Reisende, die nicht mehr als Touristinnen und Touristen hervorstechen wollen – und eben lieber auf dem Meidlinger Markt frühstücken, als vor einem Wiener Kaffeehaus in der Schlange zu stehen.

Knatternde Rollkoffer

"Die ganze Stadt ist unsere Lobby", sagt Kohlmayr. Das bedeutet aber auch: Es dauert 20 bis 25 Minuten, bis jemand vom Personal vor Ort ist, wenn es ein Problem gibt. Das sei den Gästen auch bewusst, komme aber fast nie vor. Einmal, erinnert sie sich, musste sie abends ausrücken, um jungen Südkoreanern den Oldschool-Schlüssel zu erklären.

Die Zimmer versprechen einen Hauch Lokalkolorit.
Die Zimmer versprechen einen Hauch Lokalkolorit.
Helena Lea Manhartsberger

Am Schaufenster ziehen jetzt drei Menschen mit knatternden Rollkoffern vorbei. Eine davon ist eine Wienerin, sie wohne ganz in der Nähe, erzählt sie beim Eintippen des Codes in die Schlüsselbox. Ihr Besuch, ein junges Paar, das heute in einem weiteren Grätzlhotel-Geschäftslokal ums Eck übernachten wird, komme aus Australien. "Die finden das cool", sagt sie, und die beiden nicken.

In meinem Schaufenster steht ein alter Sessel, eine Küchenwaage, zwei Zuckerdosen. Damit soll an die Vergangenheit des Ortes als Zuckerbäckerei erinnert werden. Und draußen auf der Straße riecht es tatsächlich, wie es früher gerochen haben könnte. Das könnte aber auch an der Konditorei Hüftgold liegen, denn in deren Marktstand gegenüber werden Kuchen, Torten und tatsächlich auch Punschkrapferln herstellt. Sie gehört Mark Ruiz Hellin, ebenso wie das benachbarte Café Ignaz & Rosalia, bei dem die Grätzelhotel-Gäste oft zum Frühstück landen. Häufig seien es ältere Paare, sagt er, auf sie hat er auch seine Karte abgestimmt: "Den Kaiserschmarren bestellen nur die Touristen", ebenso Kaffee-Kreationen wie die Maria Theresia mit warmem Marillenlikör. Oft werde dann auch gleich nach Öffis in der Nähe gefragt. "Und wir warnen vor Touristenfallen: Wenn Mozart in der Innenstadt auf euch zusteuert, will er euch überteuerte Konzertkarten verkaufen."

Die Stadt erwacht

Irgendwann ziehe ich den Vorhang meines Zimmers trotz unbändiger Neugier auf das Leben da draußen doch zu. Die Nacht im Geschäftslokal verläuft ruhig. Zum Leben erwacht der Markt kurz nach fünf Uhr, wenn die ersten Händler mit dem Aufbau der Gemüsestände anfangen. Ich bekomme davon nichts mit. Irgendwann weckt mich das gedämpfte Murmeln eines Paares, das direkt vor meinem Fenster steht.

Die alten Gegenstände in der Auslage wirken ein wenig verloren. Zu kaufen gibt es hier aber schon lange nichts mehr.
Die alten Gegenstände in der Auslage wirken ein wenig verloren. Zu kaufen gibt es hier aber schon lange nichts mehr.
Helena Lea Manhartsberger

Guten Morgen! Ich ziehe schwungvoll den Vorhang auf. Ein Parkwächter steht schon bei einem falsch geparkten Lkw, wenig später kommt seine Kollegin hinzu, mit der er sich aufgeregt berät. Ein Mann spaziert aus dem Haus und belädt seinen Kofferraum. Beim Marktstand gegenüber sitzen schon die ersten Gäste bei ihrem Wiener Frühstück. Und kann es sein, dass ich von irgendwo Hufgeklapper höre? Tatsächlich, wenig später zieht eine Kutsche direkt an meinem Fenster vorbei. Die Stadt erwacht. Und ich bekomme es aus der ersten Reihe mit.

Touristin bleibt man aber trotz allem. Allein schon deshalb, weil ein – derzeit wichtig – kühler Raum für viele Menschen im Grätzel eine Wunschvorstellung bleibt. Aber immerhin muss man am Markt, anders als in der Innenstadt, nicht Schlange stehen. Und Sisi-Kitsch ist dennoch nur eine U-Bahn-Fahrt entfernt. (Franziska Zoidl, 25.7.2023)