Tanz
Trajal Harrell: Choreografie stellt sich gegen den Krieg.
Orpheas Emirzas

Er hat etwas angezündet im zeitgenössischen Tanz. Trajal Harrell tauchte als Choreograf und Performer erstmals vor zwölf Jahren bei Impulstanz auf – mit einer Werkserie, die an den Grundfesten der Postmoderne kratzte: Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church.

Wie bitte? Zur Erinnerung: Das Kollektiv des Judson Dance Theater gab ab 1962 in New York die Initialzündung für den postmodernen Tanz, und Jennie Livingstons Film Paris Is Burning (1990) ist eine Kultdoku über die queere Ballroom-Szene im Big Apple der 1980er-Jahre. Mit seinem 2009 begonnenen Twenty Looks-Projekt fragte Harrell: "Was wäre passiert, wenn jemand aus der Voguing-Szene von Harlem nach Downtown gekommen wäre, um die Pioniere des postmodernen Tanzes am Judson Dance Theater in den frühen Sechzigern zu treffen?"

Starke Emotionalität

Dieser Ansatz hat den 1973 in Douglas, Georgia, geborenen und mittlerweile die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzenden Choreografen international berühmt gemacht. Wie würde Harrell sich einem Publikum vorstellen, das ihn noch gar nicht kennt? "Ich bin vielleicht am ehesten bekannt dafür, dass die Hauptstruktur meiner Arbeit von Laufstegbewegungen kommt." Daran habe er, inspiriert von den Voguing- und postmodernen Tanztraditionen, wahrscheinlich am gründlichsten gearbeitet.

"Ich und meine Tänzerinnen und Tänzer sind auch für die starke Emotionalität in meinem Werk bekannt geworden", fügt er an. Beim Gespräch mit dem STANDARD sitzt er in einer kleinen Garderobe des Kasinos am Schwarzenbergplatz. Ein zart gebauter Mann mit sanfter Stimme. Doch Harrell folgt seinen künstlerischen Ideen mit sicherer Konsequenz, zurzeit als Leiter der Tanzkompanie im Zürcher Schauspielhaus.

Höfische Darstellung

Er selbst sei aber kein Voguer, sagt er. Denn zwischen Voguing und Laufstegbewegungen, auch Catwalk genannt, gibt es Unterschiede: "Voguing ist eine eigene soziale und performative Praxis, die im New York der Sechzigerjahre entstand und sich zu einer sehr harten Form von Wettbewerb entwickelt hat." Wie das Voguen haben ihn ebenso die für den frühen postmodernen Tanz typischen einfachen Bewegungen oder auch der japanische Butō-Tanz inspiriert.

Die elegant choreografierten Laufstegauftritte von heute fügt Harrell locker in die Tanzgeschichte ein, "weil schon bei Ludwig XIV. sowohl das Modespektakel als auch das Ballett Aspekte höfischer Darstellung und deren elaborierter Performances waren." Der französische Sonnenkönig trug im 17. Jahrhundert zur – elitenbezogenen – Popularisierung des damals "höfischen" Balletts bei.

Der Choreograf tut das für den Catwalk, auf den er auch in Titeln seiner Stücke anspielt: Maggie the Cat oder Monkey off My Back or the Cat’s Meow. Beide gastieren jetzt beim aktuellen Impulstanz-Festival, wo auch Harrells choreografische Interpretation von Keith Jarretts The Köln Concert wiederzusehen ist.

Kategorien überbrücken

Trajal Harrell ist – auch im Zusammenhang mit seiner Situation als "gay Afroamerican" – überzeugt davon, dass Kunst in Krisenzeiten helfen kann: "Ich sehe so viel Polarisierung, und wir haben nicht wirklich einen Ausweg. Aber Kunst kann Kategorisierungen überbrücken und hoffentlich neue Möglichkeiten öffnen. Das versuche ich in Monkey off My Back or the Cat’s Meow zu tun." Man müsse den Glauben stärken, dass sogar das Unmögliche möglich gemacht werden kann.

Doch er betont auch: "Ich bin nie daran interessiert, den Leuten mit meinen Arbeiten zu sagen, wie ihre Politik sein soll." Er schlage dem Publikum zwar vor, wie man sich etwas vorstellen kann, "aber es geht mir nicht darum, ihm zu sagen, wie und was es denken soll". Es werde immer Unterschiede geben, und er sei alt genug, um das zu erkennen. Sein Werk schließe niemanden aus.

Was ihn heute im Vergleich zum Start seiner Laufbahn vor 24 Jahren motiviert: "Am Beginn wollte ich vor allem meinen Platz im Bereich des Tanzes finden. Jetzt sehe ich weniger Zeit vor als hinter mir, und ich werde viel mehr vom Tanzen und vom Zusammensein mit dem Publikum angetrieben." (Helmut Ploebst, 25.7.2023)