Alles ist dunkelblau. Blickt man nach oben, wird es heller, transparenter. Man kann das Licht der Sonne erahnen. Richtet man die Scheinwerfer, die mit dabei sind, auf den Boden, verwandelt sich der bläuliche Schimmer, der alles umgibt, in bunte Farben. Korallen, Fische, Algen und andere Tiere und Pflanzen zeichnen sich ab. Ein ganzes Ökosystem, über das bisher noch wenig bekannt ist, wird sichtbar. Hier in Tiefen von oft mehr als 100 Metern vor der Küste der Kanarischen Inseln ist keiner der Sport- oder Freizeittaucher, die sich an den oberflächennahen Riffen herumtreiben, mehr anzutreffen. Denn hierher in die sogenannte mesophotische Zone zu gelangen, in der das Licht der Sonne zunehmend rar wird, ist mit extremem technischem Aufwand verbunden.

Nur wenigen Menschen ist es vorbehalten, diese Tiefe wissenschaftlich zu erkunden. Das französische Entdeckerduo Emmanuelle Périé-Bardout und Ghislain Bardout samt ihrem Expeditionsteam von "Under the Pole" gehören zu ihnen. Im Rahmen ihres zehnjährigen "Deeplife"-Programms absolviert das Team von Tauchexperten zahlreiche Missionen rund um den ganzen Globus, um gemeinsam mit Meeresbiologen, Ozeanografen und weiteren Forschenden das Leben in dieser noch kaum erkundeten Tiefenschicht zu erkunden.

Zu den kanarischen Inseln

Vergangenes Jahr führte sie ihr Missionsplan zu den Kanarischen Inseln, um nicht weit von den Touristenmekkas dort noch niemals erkundete Orte zu besuchen. "Freizeittaucher bleiben gewöhnlich in einer Tiefe bis zu 40 Metern. Ab 50 Metern Tiefe beginnen aber erst die Unterwasserwälder der Schwarzen Korallen", sagt Ghislain Bardout. "Es ist ein riesiges und wunderschönes Ökosystem, das viele Spezies beherbergt." Traditionell war man dagegen der Ansicht, dass sich in diesen Sphären die Biodiversität stärker ausdünnt.

Kanarische Inseln, Deep Life, Under the Pole
Über die Unterwasserwelt vor der Küste der Kanarischen Inseln ist bisher nur wenig bekannt. Forscherinnen und Forscher wollen nun Licht in die Dunkelheit bringen.
Franck Gazzola / Under The Pole

Es liegt an den Tauchexperten, Sensoren in dieser Unterwasserwelt zu platzieren, Standardisierte Bildaufnahmen anzufertigen und Proben zu nehmen. Ausgangspunkt ist ein auf die Bedürfnisse der Forschenden zugeschnittenes Expeditionsschiff, die Why. Bardout wälzt bereits Pläne für eine neue schwimmende Basis, die auch ein Labor, eine Dekompressionskammer und Tauchkapseln mitbringen soll – die Konstruktion beginnt, sobald die nötigen Investorengelder vorhanden sind.

Schutzmaßnahmen

Die Welt der mesophotischen Zone soll durch die Forschungstätigkeit nicht nur besser kennengelernt werden, die resultierenden Daten sollen auch die Basis für künftige Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen geben. Besonders die Rolle der Meereswälder im Kohlenstoffkreislauf muss noch umfassender geklärt werden. Gleichzeitig sind viele der Ökosysteme, deren Entwicklung sich zum Teil über Jahrhunderte erstreckt, bereits den tief reichenden Schleppnetzen der industriellen Fischerei zum Opfer gefallen.

Der extremste Tauchgang der Expedition führte bis auf 200 Meter Tiefe – ein Ziel, das selbst mit den verwendeten Antriebssystemen zur Fortbewegung unter Wasser sowie Kreislauftauchgeräten, die längere Tauchgänge erlauben, nur schwer erreichbar ist. "Vor 15 oder 20 Jahren wären diese Tauchmissionen nicht möglich gewesen. Sie basieren auf viel Erfahrung und einer Reihe von technischen Innovationen. Dennoch braucht es ein ganzes Team dafür, besonders wenn man in abgelegenen Weltgegenden taucht", sagt Bardout.

Kanarische Inseln, Deep Life, Under the Pole
Die Erforschung der Meereswälder soll unter anderem als Anstoß für Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen dienen.
Franck Gazzola / Under The Pole

Das "Under the Pole"-Team ist etwa für seine Rekordtauchgänge in der Polarregion bekannt, wo zu den technischen und logistischen Herausforderungen noch die eisige Kälte dazukommt. Zuletzt steuerte die Why etwa Richtung Spitzbergen, um die – auch in polaren Gewässern üppig vorhandenen – Meereswälder zu untersuchen.

Erreicht man dann das tief gelegene Tauchziel, bleiben nur wenige Minuten Zeit zum Verweilen, bevor man sich auf den dank der Dekompressionszeiten viele Stunden langen Rückweg macht. In aller Eile müssen relevante Spezies identifiziert, Proben genommen und in Netzen nach oben geschickt werden. "Die Zeit verrinnt sehr schnell", sagt Bardout über diese Arbeit. "Die Momente, die wir da unten verbringen, sind enorm intensiv. Man ist extrem fokussiert."

Extreme Erfahrung

Gleichzeitig ist das Durchqueren der Wälder aus bis zu zwei Meter hohen Korallenskulpturen für die Tauchenden selbst eine außerordentliche Erfahrung: "Man hat das Gefühl, für ein paar Minuten einen anderen Planeten zu erkunden. Es ist eine Parallelwelt, die nahe und gleichzeitig sehr weit entfernt und nur auf sehr komplizierte Weise zu erreichen ist. Wir sind nicht dazu gemacht, hier zu verharren", beschreibt der Taucher.

Kanarische Inseln, Deep Life, Under the Pole
Die Unterwasserwelt bei Fuerteventura ist voller Leben. Die Taucher stoßen dort auf eine Vielzahl an Fischen.
Franck Gazzola / Under The Pole

Gerade beim tiefsten Tauchgang in 200 Meter Tiefe wurden keine der auch Seetierwälder genannten Kolonien entdeckt, lediglich einzelne, verstreute Korallen. Doch durch die Daten, die vor allem an einem unterirdischen Hang vor Lanzarote erhoben werden konnten, sollen die Unterwasserwälder in der mesphotischen Sphäre überall auf der Welt besser versteh- und in Modellen abbildbar werden. Obwohl die Auswertung noch längere Zeit benötigen wird, sind erste Resultate bereits bekannt. Beispielsweise wurde eine neue Gattung von Krebstierchen entdeckt, die im Schutz der Meereswälder leben.

Widerstandsfähigkeit

Zudem wurde entdeckt, dass die Schwarzen Korallen nicht, wie bisher angenommen, nur auf felsigem Meeresboden Halt finden. Es wurden Spezies gefunden, die sich im Sand an der Oberfläche von Muscheln verankerten, schildert Bardout. Zudem zeigte sich auch hier, dass eine klimawandelbedingte Korallenbleiche, die in den oberen Zonen zu beobachten ist, in der Tiefe viel weniger stark ausgeprägt ist. Für Forschende ist das ein Beleg, dass die tiefen Ökosysteme zur Widerstandsfähigkeit in den betroffenen Arealen beitragen können.

Bardout wirbt dafür, nicht die Augen vor der Unterwasserwelt zu verschließen, nur weil wir sie nicht wie die Landökosysteme täglich wahrnehmen. "Wir schenken dieser Welt kaum Aufmerksamkeit und gehen nicht vorsichtig genug mit ihr um. Ich glaube, wir beginnen gerade erst, sie zu verstehen", sagt der Entdecker. "In unserem Verhältnis zu den Ozeanen spielt Wissenschaft eine wichtige Rolle. Wir benötigen Wissen, um ein passendes Verhalten entwickeln zu können, das sowohl unseren Bedürfnissen in der Fischerei oder dem Tourismus als auch den Erfordernissen des Umweltschutzes gerecht wird." (Alois Pumhösel, 28.7.2023)