Politikwissenschafterin Barbara Prainsack schreibt in ihrem Gastkommentar über die Kampagne der ÖVP und deren Vorbild.

Bundeskanzler Karl Nehammer hat der Bevölkerung vergangene Woche erklärt, was er für normal hält. Einige Teile der Rede lösten heftige Reaktionen aus – wie etwa die Gleichsetzung von Klimaaktivistinnen und -aktivisten mit Identitären oder die Aussage, dass Ausnahmen für Minderheiten keine Regel werden dürften. Ein Punkt, den der Kanzler am Mittwochabend in einem Interview auf Servus TV noch bekräftigt hat. Mit diesem Argument gäbe es allerdings heute keinen Nichtraucherschutz, keinen Hochschulzugang für Frauen und keine Kinderrechte. All das waren ursprünglich Ausnahmen.

Manche Aspekte der Rede sind demokratiepolitisch besonders relevant. So etwa die Aussagen des Bundeskanzlers zum Minderheitenschutz. Diesen betonte der Kanzler gleich mehrmals – jedoch nicht, ohne zuvor aufgezählt zu haben, wer eine Gefahr für die Bevölkerung darstelle: die "Radikalen" sowie alle, die rechtliche oder moralische Normen missachten. Letzteres schließt auch Menschen ein, die nicht zur Arbeit gehen. Was bei vielen hängenbleibt: Die, die sich den moralischen Werten der Mehrheit nicht unterwerfen, sind keine Minderheit, die Schutz verdient.

ÖVP Kanzler Nehammer
Setzt weiterhin auf die Debatte über Normalität: Kanzler Karl Nehammer (ÖVP).
APA/GEORG HOCHMUTH

Der Kanzler beklagte sich zudem darüber, dafür kritisiert zu werden, "dass man sich für die Normalen, für die vielen einsetzt". Die Mehrheit wird hier als Opfer einer aggressiven Minderheit dargestellt, die sie drangsaliert und versucht, ihr den Mund zu verbieten. Damit wird nicht nur die Debatte um die finanziellen Schwierigkeiten der vielen zu einem Konflikt umgedeutet, bei dem es um kulturelle Vorherrschaft geht – statt um soziale und wirtschaftliche Sicherheit. Zudem ist das Narrativ einer von einer radikalen Minderheit gedemütigten "Normalbevölkerung" ein klassisches Instrument rechtspopulistischer Rhetorik, um Kritik an der herrschenden Ordnung als aggressive Attacke auf den gesellschaftlichen Grundkonsens zu diffamieren.

Warum tut Nehammer das? Natascha Strobl wies auf Ähnlichkeiten zwischen der Kanzlerrede und der AfD-Kampagne "Deutschland. Aber normal" hin. Diese Parallele scheint, wie mehrere Politologinnen und Politologen bemerkt haben, dem Ziel zu dienen, potenzielle FPÖ-Wählerinnen und -Wähler anzusprechen.

"Der Schutz von Minderheiten ist ein zentraler Teil jeder demokratischen Ordnung. Dazu gehören eben auch Minderheiten, die sich nicht innerhalb des moralischen und politischen Mainstreams befinden."

Die wichtigste Inspiration für die Kanzlerrede scheint jedoch aus dem Drehbuch der britischen Konservativen, der Tory-Partei, zu stammen. Das Vereinigte Königreich leidet unter einer Vielzahl akuter Probleme – von explodierenden Lebenshaltungskosten über politische Skandale bis hin zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Diese Situation hat mittlerweile sogar den konservativen "Economist" dazu bewogen, der Tory-Regierung ein unmissverständliches Zeugnis auszustellen: Sie hinterlasse ein "verfaultes Erbe".

In Ermangelung an Lösungen hat die Tory-Führung deshalb auf Kulturkampf umgeschaltet: Statt für leistbares Wohnen und andere Maßnahmen der Existenzsicherung zu sorgen, "kämpft" sie für die Beschränkung der Einwanderung, behandelt Klimaaktivistinnen und -aktivisten wie Terroristinnen und Terroristen und führt einen "Krieg" gegen die Woke-Kultur.

Zu den Vordenkern gehört die "Common Sense Group" innerhalb der Tory-Partei, eine Gruppe von Parlamentariern, die sich "für die schweigende Mehrheit der Wähler" einsetzen, "die es müde sind, von elitären bürgerlichen Liberalen bevormundet zu werden". Die Agenda der Gruppe liest sich wie eine Zeitreise in das England der 1950er-Jahre: Man wünscht sich eine Gesellschaft, in der jeder seinen natürlichen Platz kennt und nicht Regenbogenfahnen, sondern die Nationalflagge die Gebäude zieren. Politische Korrektheit kennt man nicht, und die christliche Leitkultur ist unangefochten.

Es wäre verwunderlich, wären die Parallelen zur Kanzlerrede rein zufällig. Selbst der hemdsärmelige Auftritt des österreichischen Bundeskanzlers vor dem beflaggten Hintergrund finden sich in den Inszenierungen seines britischen Amtskollegen. Während mittlerweile auch die "Kronen Zeitung" konkrete Lösungen für die Probleme des Landes fordert, macht Nehammer den Kulturkampf zum Programm.

Debatte über Grundwerte

Auch die Themen des Servus-TV-Interviews, das offenkundig dem Ziel diente, auf den Vorwurf der Inhaltsleere zu reagieren, sind mit der Agenda der Common-Sense-Gruppe praktisch deckungsgleich. Damit soll auch der Ton für den bevorstehenden Wahlkampf vorgegeben werden.

Die Rechnung könnte aufgehen – sowohl für die britischen Tories als auch für die ÖVP –, wenn die Opposition nicht in der Lage ist, eine überzeugende Vision für eine sozial gerechte und nachhaltigere Zukunft zu formulieren. Was es jetzt braucht, um politisch zu reüssieren – trotz der Ablenkungsmanöver –, sind Positionen, die sich daran orientieren, wie eine solche Vision aussieht und wie man sie erreicht; und nicht, was die Umfragen gerade sagen.

Gleichzeitig ist es verständlich, dass viele nach den Aussagen des amtierenden Bundeskanzlers nicht einfach zur Tagesordnung übergehen wollen. Eine kritische Diskussion darüber, was Politik in Zeiten der Mehrfachkrisen leisten kann und muss, ist wichtig. Ebenso eine Debatte über die demokratischen Grundwerte unserer Gesellschaft. Demokratie erschöpft sich nicht im Mehrheitsprinzip. Der Schutz von Minderheiten ist ein zentraler Teil jeder demokratischen Ordnung. Dazu gehören eben auch Minderheiten, die sich nicht innerhalb des moralischen und politischen Mainstreams befinden. Zudem waren immer Minderheiten die Pioniere der Veränderung, die wir auch heute wieder so dringend brauchen. (Barbara Prainsack, 29.7.2023)