Salzburger Festspiele, Nathan der Weise
Die Kernszene des Stücks: Nathan (Valery Tscheplanowa) trifft auf den Sultan (Nicola Mastroberardino) und erzählt ihm die Geschichte der drei Ringe.
Monika Rittershaus/Festspiele

Wirklich hell wird es auf der riesigen Bühne nie - nicht einmal, als Nathan die Ringparabel vorträgt, dieses Zentralgestirn der literarischen Aufklärung. Für einen Moment treten der Sultan und Nathan zwar in die gleißende Lichtwand, die sich zwischen den umher kreisenden Säulen auf den Drehbühnen aufbaut, doch dann verschwinden sie wieder in die diffuse Düsternis, in die dieser Kraftakt von Inszenierung ganze vier Stunden lang gehüllt ist - als wollte man bei den Salzburger Festspielen Gotthold Ephraims Lessings Ideendrama "Nathan der Weise" mit einem dicken Fragezeichen versehen.

Die Frohbotschaft, die der Wolfenbütteler Bibliothekar in seinem 1779 erschienenen "dramatischen Gedicht in fünf Aufzügen" bereithält, ist auch zu schön, um wahr sein zu können. Nachdem ihm ein Kabinettsbefehl untersagt hatte, weiter ein religionskritisches Werk herauszugeben, wechselte Lessing kurzerhand den Kampfplatz: "Ich muss versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater, wenigstens noch ungestört wird predigen lassen." Worum es Lessing ging: der Menschheit den Weg in eine paradiesische Zukunft zu zeichnen, eine, in der alle Menschen verschiedenen Glaubens Mitglieder einer einzigen Familie sind. Wie das gelingen könnte: durch Vernunft und Toleranz. 250 Jahre nach der Uraufführung des "Nathan" wissen wir, dass das Paradies leider noch fern ist.

Das ahnte man wohl auch bei der Berliner Erstaufführung, die alles andere als ein Erfolg war. Erst mit der Zeit wurde der reflexionsschwere "Nathan" in den Bildungskanon aufgenommen, nach den dunklen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wurde er fixer Bestandteil der Schullektüre. Weniger allerdings, weil das Stück durch dramaturgischen Witz oder pralle Charaktere als durch seine mustergültige (und recht überkonstruierte) theoretische Beweisführung besticht. Heute liegen einem die Lessingschen Blankverse bei der Lektüre schnell im Magen.

Technoider Finsterling

All das scheint man auch bei den Salzburger Festspielen bedacht zu haben, als man das Aufklärungsstück einem Mann überantwortet hat, der in der Vergangenheit nicht unbedingt durch Optimismus oder Leichtfüssigkeit aufgefallen ist. Ulrich Rasche ist der technoide Finsterling unter den Regisseuren und Bühnenbildnern, und im Falle des "Nathan" ist das wohl etwas vom Besten, was einer Inszenierung heute passieren kann. Die Schatten inszeniert und denkt Rasche nämlich immer mit.

Ja, die Sudhalle auf der Pernerinsel in Hallein, wo diese Eigenproduktion der Festspiele stattfindet, ist von Anfang an ein einziges Schattenreich. Leichte Nebel wabern über die drei, pausenlos rotierenden Drehbühnen, an den zwei Seiten sind fünf Musiker postiert. Sie geben mit ihren Percussion-Instrumenten den Rhythmus dieser hämmernden Inszenierung vor (Komposition: Nico van Wersch). Diesem entkommt man nicht: Jeder Schritt der nicht einen Moment still stehenden, starr ins Publikum blickenden und mönchisch schwarz und anthrazit gekleideten Spieler (Kostüme: Sara Schwartz) wird vom Schlagen und Pochen der Bässe begleitet, jedes Wort hat eine zweite, musikalische Ebene. Wie bei einem Gewitter baut sich die Spannung in der ersten Hälfte immer weiter auf, bis sie im Vortrag der Ringparabel ihre Entladung findet.

Mit ihm gelingt Rasche kurz vor der Pause eine Szene, die alles davor wie Expositur und alles danach wie ein Postskriptum erscheinen lässt. Schritt für Schritt stapfen dieser Nathan von Valery Tscheplanowa und der Sultan von Nicola Mastroberardino aufeinander zu - ohne sich aber einen Meter näher zu kommen. "Ich bin auf Geld gefasst", skandiert der reiche Nathan: "Doch er will Wahrheit", und erzählt dann dem Sultan die Geschichte der drei Ringe, von denen einer seinem Träger die Eigenschaft verleihen soll "angenehm" zu erscheinen.

Nicht die Figuren stehen im Mittelpunkt, es sind die Worte, die herausgepresst und -geschrieen werden, begleitet von Haltungen und Gesichtsausdrücken, die in ihren minimalen Varianten ganze Welten entstehen lassen. Geht Nathan rückwärts, dann erzählt das mehr als ein subtiles psychologisches Spiel, durchschreitet er eine der Lichtwände, dann ist das ein heimlicher Knalleffekt. In der Reduktion und Abstraktion der Mittel entwickeln Rasche und seine kraftvollen Spieler eine Zeitgenossenschaft, die man beim "Nathan" nicht für möglich gehalten hätte.

Salzburger Festspiele, Nathan der Weise
Jüdin und Christ, Bruder und Schwester: Julia Windischbauer gibt die Recha, Mehmet Atesci den jungen Tempelherrn, der sie aus dem Feuer rettet.
Monika Rittershaus/Festspiele

Statt Charaktere werden Worte, Bewegungen und stimmungsvoll düstere Räume inszeniert, und so ist es nur folgerichtig, dass manche Figuren auf mehrere Spieler aufgeteilt sind. Während Recha (Julia Windischbauer), der Tempelherr (Mehmet Atesci) und Sittah (Almut Zilcher) neben Nathan und dem Sultan mit eigenen Schauspielern besetzt sind, treten alle anderen Figuren mit christlichem Glaubenshintergrund im Chor auf. Aus diesem lösen sich einzelne Stimmen, oder aber man ergreift gemeinsam das Wort. Dann baut sich eine körperliche Gewalt auf, die in der Schilderung eines christlichen Pogroms, dem Nathans Frau und sieben Söhne zum Opfer gefallen sind, die Wucht eines Mobs erreicht.

Ähnliches passiert auch bei den wenigen fremden Textpassagen, die in das Stück eingebaut werden, konkret bei den antisemitischen Auslassungen Fichtes und Voltaires. So hell diese Aufklärungsphilosophen zu strahlen scheinen, so schattenreich sind manche ihrer Gedanken über andere Religionsgemeinschaften, insbesondere das Judentum. Auf der Pernerinsel in Hallein markieren sie den Resonanzraum eines Aufklärungsstücks, dessen Licht schon bei der Entstehung getrübt war, beziehungsweise dessen Selbstverständlichkeit man hinterfragen will.

Dass Ulrich Rasche dies nicht mit dem Zeigefinger macht, ist eine seiner Qualitäten. Sein "Nathan" ist kein weiser Patriarch sondern in der wunderbar passenden Gestalt Tscheplanovas ein filigraner, aber hoch energetischer Denkender. Ihren Reflexionen folgt man genau so mühelos wie jener der anderen tollen Spieler, auch wenn Lessings beinahe märchenhafte Handlung mit ihren ganzen Seitensträngen (trotz starker Straffungen) natürlich Tribut fordert und von manchen Besuchern mit einem Abgang in der Pause quittiert wird.

Wer die Konzentration allerdings hält, der wird nicht nur mit einem beinahe utopischen Schlussbild einer entblößten Menschengemeinde belohnt, sondern auch mit vielen produktiven Zweifeln nach vier Exerzitienstunden entlassen. Großer Applaus. (Stephan Hilpold, 29.7.2023)