Streng geheim Top Secret
Erst jetzt ausgewertete, streng geheime Listen der US-Alliierten legen nahe, dass es im beginnenden Kalten Krieg ein heftiges Ringen auch um österreichische Fachleute gab.
CIA / Screenshot

Österreich war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine wissenschaftliche Wüste und blieb es für mehrere Jahrzehnte. Oasen wie die Mathematik, deren Geschichte unlängst gründlich aufgearbeitet wurde, blieben die Ausnahme. Von der einstigen wissenschaftlichen Größe um 1900 war vor allem nach der rassistischen und politischen Vertreibung hunderter Forschender durch die Nazis kaum mehr etwas übrig geblieben. Und bei Kriegsende 1945 war die Mehrheit der Wissenschafterinnen und Wissenschafter an Österreichs Hochschulen entweder NSDAP-Mitglied oder zumindest Parteianwärter, was einen Neustart auch nicht gerade erleichterte.

Ein Teil dieses Selbstzerstörungswerks war freilich schon in der Zwischenkriegszeit und im Austrofaschismus begonnen worden, an dessen naturwissenschaftsfeindlicher Politik nach 1945 wieder angeknüpft wurde. Statt eines radikalen Neubeginns nach 1945 und einer "Stunde null" kam es zu einer "autochthonen Provinzialisierung", wie der Soziologe Christian Fleck in einem oft zitierten Text formulierte. Entsprechend gilt es als im Wesentlichen selbstverschuldet, dass Österreichs Forschung erst relativ spät im 20. Jahrhundert wieder internationalen Anschluss fand.

Verhinderte Remigration

Das hätte auch etwas früher passieren können: Die britischen und die US-amerikanischen Alliierten legten den zuständigen Wiener Stellen 1946 lange Listen mit 1938 aus Österreich vertriebenen Forschenden vor, die zurückgeholt werden sollten. Doch solche Aufforderungen wurden von den alten schwarz-bräunlichen Netzwerken, die nach 1945 im Ministerium, der Uni Wien oder der Akademie der Wissenschaften wieder das Sagen übernahmen, erfolgreich unterlaufen, weshalb die Rückkehr der Vertriebenen auf wenige Ausnahmen beschränkt blieb. Stattdessen machte sich in vielen Bereichen die schlampig entnazifizierte, katholisch genehme Mediokrität breit.

Ursprünglich streng geheime US-Dokumente aus dem Jahr 1949, die bisher weitgehend unbeachtet blieben, werfen nun allerdings ein neues Licht auf die Nachkriegswissenschaft in Österreich. Sie legen nahe, dass auch die Alliierten selbst mit Beginn des Kalten Kriegs die wissenschaftliche Entwicklung in Österreich behinderten – und stellen dabei einen unmittelbaren Zusammenhang mit jenen Ereignissen her, die im Film "Oppenheimer" Thema sind.

Buhlen um die Experten der Nazis

Denn spätestens mit dem Manhattan-Projekt der US-Amerikaner und dem Bau der ersten Atombombe begann zwischen Ost und West ein Wettrennen um militärisch relevante Erkenntnisse – und ab 1945 um die besten Physiker und Chemiker, die bis dahin in Nazi-Deutschland inklusive Österreich gearbeitet hatten. Diese Forschenden wurden von manchen als Teil der Reparationen Deutschlands und Österreichs gesehen, wie der deutsche Physiker und Wissenschaftshistoriker Johannes-Geert Hagmann (Deutsches Museum München) kürzlich im Fachblatt "Physics Today" ausführte. Etwaige Nazi-Verstrickungen waren den Siegermächten in etlichen prominenten Fällen kein Ausschließungsgrund.

Bekanntestes Beispiel für die Übernahme von NS-Spezialisten mit militärisch relevanten Erkenntnissen ist die Operation Paperclip (ursprünglich: Operation Overcast): Unmittelbar nach Kriegsende schnappten sich die US-Amerikaner zunächst rund 450 deutsche Experten rund um den Raketenpionier Wernher von Braun, der den US-amerikanischen Geheimdienstlern übrigens bei Kriegsende in Reutte in Tirol in die Hände fiel.

Wernher von Braun Magnus von Braun CIC
Raketenpionier Wernher von Braun (mit eingegipstem Arm) und Kollegen mit dem US-GeheimdienstoffizierCharles Stewart (links) Anfang Mai 1945 in Reutte.
Gemeinfrei / Wikimedia

Doch mit der zwangsweisen Übersiedlung der vor allem deutschen Raketenpioniere war die Operation Paperclip noch lange nicht abgeschlossen, die bis 1959 andauerte: Dazu gesellten sich im Laufe der Jahre zahlreiche weitere Forscherinnen und Ingenieure aus Deutschland und Österreich, die ihre Kenntnisse mit der Kollegenschaft in den USA teilen sollten.

"Rückkehr unbedingt verhindern"

In diesem Kontext steht auch ein ursprünglich streng geheimes Originaldokument, das Hagmann in seinem Artikel erstmals präsentiert und das vor allem von österreichischen Forschenden handelt. Diese geheimdienstlichen Informationen vom 13. April 1949 bestehen aus vier Listen, von denen zumindest die dritte (C.) von gewisser Brisanz ist. Darauf befinden sich nämlich die Namen von Lise Meitner, Wolfgang Pauli, Erwin Schrödinger und sieben weiteren Forschern, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Österreich befanden. Ihre Rückkehr nach Österreich soll "um jeden Preis verhindert werden", wie es im Dokument des Office of Scientific Intelligence (OSI) innerhalb des US-Geheimdiensts CIA unmissverständlich hieß.

CIA Liste Experten OSI
Listen des OSI mit Namen von österreichischen Forscherinnen und Forschern, die nicht in die Hände der Sowjets fallen sollen.
CIA / Screenshot

Die Begründung: Es bestehe die Gefahr, dass Meitner und Co, deren Wissen militärisch relevant sei, bei ihrer Rückkehr in die Hände der Sowjets fallen könnten. Hatten die Briten und US-Amerikaner drei Jahre zuvor noch darauf gedrängt, möglichst viele Emigranten zurückzuholen, so sorgte der Kalte Krieg nun für diametral entgegengesetzte Prioritäten – zumindest, wenn es um Expertinnen und Experten mit militärisch wichtigem Wissen ging.

Zwei weitere Listen dieses Dokuments umfassten die Namen von insgesamt 16 in Österreich tätigen Physikerinnen und Chemikern, deren Bedeutung es wünschenswert erscheinen lasse, dass sie den Russen "denied", also "verweigert" würden. Die letzte und kürzeste Liste bestand aus zwei Physikern, die bereits für die Sowjets tätig waren und die besser wieder unter westlicher Kontrolle arbeiten sollten. (Einer der beiden war allerdings ein Deutscher.)

Vom NKWD verschleppt

Offen bleibt, wie groß 1949 – dem Jahr, in dem Der dritte Mann in die Kinos kam – die Gefahr für Forschende war, in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs geschnappt und nach Osten entführt zu werden. Dass ein gewisses Risiko bestand, war spätestens seit der Operation Ossoawiachim klar, die der sowjetische Geheimdienst am 22. Oktober 1946 durchführte. An diesem Tag holten Mitarbeiter des UdSSR-Innenministeriums (NKWD) in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands – der späteren DDR – rund 2.500 Forscher und Ingenieure samt Familien ab und schafften sie in die Sowjetunion zur wissenschaftlichen Zwangsarbeit.

Darunter befanden sich auch mehrere Experten aus Österreich wie Josef Eitzenberger oder Josef Pointner, die für das sowjetische Raketenprogramm arbeiten mussten. Und bereits kurz vor Kriegsende hatte das NKWD einige der führenden Kernphysiker aus Berlin in die Sowjetunion verfrachtet. Einer, der wenig später folgte, war der Österreicher Josef Schintlmeister, einer der Mitarbeiter des "Uranvereins", des deutschen Uranprojekts.

Dass im Jahr 1949 auch eine Entführung aus Wien möglich war, legt eine zweite Liste nahe, die wenige Monate später von der Joint Intelligence Objectives Agency (JIOA) angefertigt wurde. Das ist die Organisation, die direkt für die Operation Paperclip verantwortlich war, die von da an noch rund zehn Jahre fortbestehen sollte. Umfassten die ursprünglichen Listen der US-Amerikaner nur 26 österreichische Forschende, die den Russen "verweigert" werden sollten, befanden sich auf der neuen, stark erweiterten Aufstellung der JIOA mehr als 150 österreichische Expertinnen und Experten, von denen rund 25 im Ausland tätig waren.

Fundgrube für Interessierte

Zu den Namen gab es oft erstaunlich detaillierte Informationen, die diese lange Liste zu einer Fundgrube für alle wissenschaftshistorisch Interessierten macht. Hier finden sich aufschlussreiche Informationen über die Sowjet-Kontakte etlicher Forschender oder über deren Angst, vom NKWD entführt zu werden. Berichtet wird da aber auch, dass der Geologe Egon (richtig: Karl) Friedl Österreich angeblich Millionen Petro-Dollar kostete, die er für die sowjetische Mineralölverwaltung (SMV) erwirtschaftete, aus der 1956 die OMV hervorging.

Zudem finden sich Details zu Anwerbeversuchen für die Operation Paperclip. Unter jenen, die in die USA auswanderten, befanden sich etwa der spätere Kybernetikpionier Heinz von Foerster oder die NS-belastete Mikrochemikerin Edith Karl-Kroupa, deren Nachkriegskarriere Hagmann in seinem Text in "Physics Today" rekonstruiert. Zu den österreichischen US-Anwerbungen, die auf diesem Dokument nicht erwähnt sind, zählte der Batteriespezialist Karl Kordesch oder der Kernphysiker Willibald Jentschke. Auch er war Mitglied der NSDAP und Mitarbeiter des deutschen Uranprojekts, wie der Physikhistoriker Wolfgang Reiter ergänzt. Jentschke legte in den USA eine steile Karriere hin, wurde nach seiner Rückkehr nach Europa 1956 zum Gründungsdirektor des Deutschen Elektronensynchrotrons (Desy) in Hamburg und später zum Direktor des Cern in Genf.

Einige Personen auf der Liste übersiedelten aber auch in Drittländer. Der Metallurgiespezialist Willibald Machu beispielsweise, der selbst den US-Amerikanern politisch zu belastet war, und der Kernphysiker Gustav Ortner, in der NS-Zeit Direktor des Radium-Instituts in Wien und ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, gingen kurze Zeit nach Erstellung des Geheimdokuments nach Ägypten. Ob mit oder ohne Billigung der US-Amerikaner, ist (noch) unklar.

Ortner gehörte mit seiner Kollegin Hertha Wambacher zu jenen, die nach Kriegsende vom NKWD zur intensiven Befragung nach Moskau verbracht wurden, jedoch bald nach Wien zurückkehrten, sagt Wolfgang L. Reiter. Warum sie nicht in der Sowjetunion blieben, sei ungeklärt. Sicher ist, dass Ortner 1955/56 nach Österreich zurückkehrte und 1959 Direktor des Atominstituts Wien wurde.

Späte Remigration Schrödingers

Welche Folgen aber hatten nun diese intensiven geheimdienstlichen Bemühungen der (US-)Alliierten um österreichische Forschende nach 1945? Fraglos verließen etliche sehr gute Leute das Land. Einige der auf den Auslandslisten genannten Forschenden, deren Rückkehr um jeden Preis verhindert werden sollten, hatten – wie Lise Meitner – ohnehin keine Absicht, nach Wien zurückzukehren. Dass es freilich bei Erwin Schrödinger, der sich im irischen Exil befand, mit der Remigration bis zum Jahr 1956 dauerte, hat ziemlich sicher mit der Präsenz der sowjetischen Alliierten bis 1955 zu tun.

Nach deren Abzug kehrten auch etliche österreichische Forschende aus der Sowjetunion nach Österreich zurück – zumindest kurz. Für einige von ihnen ging es danach in die DDR weiter, so auch für Schintlmeister, dem die Wiener Kollegenschaft nach seiner Rückkehr 1955 aber die kalte Schulter zeigte, wie Wolfgang L. Reiter sagt.

Die Sowjets holen auf

Der Job der wissenschaftlichen Zwangsarbeiter aus Österreich und der ihrer deutschen Kollegen war ohnehin weitgehend erledigt: Die UdSSR hatte den militärtechnischen Rückstand gegenüber den USA Mitte der 1950er-Jahre endgültig aufgeholt. Mit dazu beigetragen hatte ein vertriebener österreichischer Forscher, der ab 1947 wieder in Wien arbeitete und auch auf den Listen der US-Amerikaner aufschien: Der Physikochemiker Engelbert Broda, der Bruder des späteren Justizministers, hat im Exil in London wichtige Erkenntnisse der britischen und US-amerikanischen Nuklearforschung an den KGB verraten. Die US-Amerikaner ahnten davon 1949 aber nichts.

Im August 1949 zündeten die Russen die erste sowjetische Atombombe und 1953 die erste Wasserstoffbombe – nur mehr ein Jahr nach den US-Amerikanern. Und mit Sputnik 1, dem ersten Satelliten in der Erdumlaufbahn, ging die Sowjetunion 1957 im Wettrüsten sogar erstmals spektakulär in Führung. Für den US-Komiker Bob Hope bewies das damals bloß eines: "Ihre deutschen Raketenwissenschafter waren besser als unsere deutschen Raketenwissenschafter." Wir ergänzen: Einige Österreicher waren zumindest auf russischer Seite auch mit dabei. (Klaus Taschwer, 16.8.2023)