Martin Wolf
"Fundamentale Verschiebungen in der Weltwirtschaft" gefährden unsere Gesellschaftssysteme, findet Martin Wolf.
GIAN EHRENZELLER / Keystone / pi

Er gilt als liberaler Vordenker und als einer der renommiertesten Erklärer ökonomischer Fragestellungen der Gegenwart: Martin Wolf, Chefkommentator und Mitherausgeber der britischen Financial Times, hat ein neues Buch geschrieben, das es in sich hat. In The Crisis of Democratic Capitalism sieht er dunkle Wolken über Demokratie und Kapitalismus heraufziehen – und empfiehlt dringende Reformen, um beides in die Zukunft zu retten.

STANDARD: Herr Wolf, sind unsere demokratischen Systeme in Gefahr?

Wolf: Ja, die Antwort ist klar. Zwar sind die Systeme nicht überall gleichermaßen gefährdet – in manchen Staaten erweisen sie sich als stabiler und konsolidierter. Aber ausgerechnet in der wichtigsten Demokratie herrscht die größte Gefahr, in den USA. Hier stehen derzeit wirklich die Kerninstitutionen und -werte der Demokratie auf dem Spiel. In der Demokratie braucht es einige fundamentale Prinzipien, die beachtet werden müssen, damit sie funktioniert: Man muss die Legitimität von Wahlergebnissen anerkennen ebenso wie seinen politischen Gegner. Man muss sich den daraus resultierenden Niederlagen fügen. Man muss die Institutionen akzeptieren, die die Spielregeln von Wahlen bestimmen, also Wahlkommissionen und Gerichtshöfe.

STANDARD: ... was Donald Trump und andere nicht tun.

Wolf: Trump ist seit dem Jahr 2016 der mächtigste und erfolgreichste republikanische Politiker – und sehr wahrscheinlich der nächste Präsidentschaftskandidat. Und er akzeptiert nichts von diesen Dingen. Er zweifelt seine Wahlniederlage ebenso an wie die Legitimität seines Nachfolgers. Er erschien – ein hochgradig symbolischer Akt – nicht zur Angelobung seines Nachfolgers. Und seine Partei weigert sich, ihn für all das zu bestrafen.

STANDARD: Was passiert, wenn Trump wieder Präsident werden sollte?

Wolf: Die Republikaner haben einen gut ausgearbeiteten Plan in der Schublade. Nach der Machtergreifung werden politisch neutrale Beamte entlassen – unter dem Vorwand, dass sie den sogenannten tiefen Staat repräsentieren. Dann werden all die Positionen mit Parteigängern besetzt, denen die Loyalität gegenüber dem Präsidenten mehr gilt als die gegenüber der Verfassung. Von diesen Umwälzungen werden auch die Geheimdienste, die Justiz, die Steuerbehörden und vor allem die Armee betroffen sein. Trifft dies ein, dann wären wir schon sehr, sehr nahe an einer vollwertigen Autokratie.

STANDARD: Und Europa?

Wolf: In Frankreich beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht gering, dass Marine Le Pen die nächste Präsidentin wird. Sie war eine Unterstützerin Putins und hat – um es zurückhaltend zu formulieren – einen rechtsextremen Hintergrund. Zieht man zusätzlich in Betracht, dass es auch in China und Indien eine Bewegung in Richtung mehr Autokratie gibt –, dann kann man durchaus sagen, dass die Demokratie weltweit in Gefahr ist. Das ist nicht alarmistisch, das ist einfach offensichtlich.

STANDARD: Wie kam es zum Niedergang der Demokratie?

Wolf: Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich vor 20 oder 25 Jahren anders über all das gedacht habe. Damals glaubte ich, dass der demokratische Westen ökonomisch und politisch ein Erfolg sei. Wir hatten niemals zuvor global so viel Wohlstand und Stabilität erreicht – und spätestens nach dem Kollaps der Sowjetunion breiteten sich die Demokratien, wenn auch vielerorts bei weitem nicht perfekt, in alle Teile der Welt aus. Wir erlebten damals das Gegenbild zur nunmehrigen demokratischen Rezession der vergangenen 20 Jahre.

STANDARD: Warum hat die Entwicklung gedreht?

Wolf: Zwar waren unsere Gesellschaftssysteme – wenn auch nicht überall – sehr erfolgreich, vor allem in den letzten 40 Jahren. Doch insbesondere in den USA sind die Wohlstandsgewinne sehr ungleich verteilt worden. Es gibt heute viele, viele Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die Abstiegsängste haben. Sie fürchten den Absturz in ein breites Proletariat, ein Leben voll Unsicherheit. Mitunter verbindet sich diese Furcht mit rassistischen Elementen. Die Menschen suchen nach Anführern, die versprechen, sie zu beschützen – und die ihnen vor allem das Gefühl geben, wertgeschätzt zu werden. Das Genie von Trump liegt darin, den Menschen aus der Mittelschicht dieses Gefühl vermitteln zu können – während sie von den Eliten häufig als ungebildete Trottel verachtet werden.

STANDARD: Woher stammt das Gefühl derart vieler Menschen, zurückgelassen zu werden?

Wolf: Es ist die Folge mehrerer Entwicklungen: Da wäre der technologische Wandel; Veränderungen in der Weltwirtschaft; der Aufstieg Chinas; die Deindustrialisierung im Westen und der Niedergang der institutionalisierten und organisierten Arbeiterklasse, die ein wichtiger Bestandteil unserer Demokratien war. Und da wären politische Fehlschläge. Unsere Eliten haben versagt.

STANDARD: Welche Fehlschläge?

Wolf: Das beste Beispiel war die globale Finanzkrise 2007 und 2008. Damals entstand bei vielen gewöhnlichen Leuten der Eindruck: Nicht nur sind die Verantwortungsträger in Politik, Finanzwelt und Konzernen inkompetent und nicht nur verachten sie uns – in der Krise retten sie auch noch sich selbst und ihre Institutionen, während wir unsere Häuser und vieles andere verlieren.

STANDARD: Sie sprechen an, dass in der Finanzkrise Regierungen weltweit mit Billionen an Steuergeldern Banken gerettet haben. Aber gab es denn einen anderen Weg? Wäre nicht sonst das gesamte Finanzsystem kollabiert – mit noch schlimmeren Folgen?

Wolf: Das ist korrekt, aber man muss fragen: Was ist vorher geschehen? Was hat uns in diese miserable Lage gebracht? Es herrschte meiner Meinung nach eine Mischung aus Korruption und Dummheit. Der Finanzsektor – in den USA, Großbritannien, Deutschland – hatte riesigen Einfluss auf die Politik und wurde als das globale Profitzentrum schlechthin betrachtet. Die Banken zahlten viel Steuer an die Staaten; zudem sponserten Akteure des Finanzmarkts Wahlkampagnen. Dazu kommen intellektuelle Fehler, die immensen Einfluss auf politische Entscheidungen hatten. Es dominierte die Ansicht, dass Märkte sich selbst stabilisierten und dass Interessen von Individuen stets mit den Interessen der Gesellschaft als Ganzes im Einklang stünden. Nichts davon ist richtig. Dass beispielsweise Banker große Risiken eingehen, ist nicht rational, sondern einfach nur irrational. Diese Faktoren haben zum Kollaps geführt.

STANDARD: Manche orten tiefere Gründe – zum Beispiel den Wachstumszwang unseres Wirtschaftssystems. Das Argument lautet ungefähr so: Weil derart viele materielle Bedürfnisse bereits befriedigt sind und der Wohlstand bereits sehr hoch ist, lässt sich mit der Produktion realer Güter, etwa in der Industrie, nicht mehr genug Wachstum und Profit erzielen. Also verlagert sich die globale Wirtschaftstätigkeit zu Finanzprodukten und spekulativen Geschäften – bis die Blasen platzen. Stimmen Sie zu?

Wolf: In Teilaspekten ja, aber insgesamt würde ich eher von fundamentalen Verschiebungen in der Weltwirtschaft sprechen. Diese haben ein Problem erzeugt, das wir als globalen chronischen Überschuss an Ersparnissen bezeichnen können. Über dieses Phänomen habe ich erstmals ungefähr im Jahr 2000 geschrieben: Es wurde lange zu viel Geld gespart und zu wenig konsumiert und investiert. Weil es derart viel Gespartes gab, musste – um die allgemeine Nachfrage global aufrechtzuerhalten – ein System gefunden werden, das Konsum und Investitionen ermöglicht. In einigen Staaten wie den USA, Spanien und Großbritannien entstanden deshalb Immobilienblasen. Es wurde also Nachfrage erzeugt durch das Kreditwesen der Banken – bis der finanzielle Kollaps kam.

STANDARD: Aber warum mussten Banken für Nachfrage sorgen? Warum gab es sie nicht von selbst?

Wolf: Ein Mitgrund für die vielen Ersparnisse war – und hier stimme ich der These vom Wachstum zu –, dass es immer weniger gute Investitionsmöglichkeiten gab. Blicken wir kurz zurück in die Nachkriegszeit: Damals gab es junge Bevölkerungen mit extrem hohem Investitionsbedarf, ob im Bereich materielle Produktion oder etwa im Wohnungswesen. Die Menschen wollten eine bessere Wohnung, ein erstes Auto, einen ersten Kühlschrank. Für all das brauchte es Fabriken – so entstand Wachstum. Es war ein selbstverstärkender Boom, der bis in die 1970er-Jahre anhielt. Lange waren die Investitionsmöglichkeiten fantastisch. Aber irgendwann nicht mehr. Das trug zum Überschuss an Ersparnissen bei.

STANDARD: Zurück zu den Frustrierten der Gesellschaft: Man sollte meinen, dass Menschen, die sich ökonomisch unter Druck fühlen, linke Parteien wählen. Tatsächlich ist das in einigen Staaten der Fall. In Österreich beispielsweise feiern die Kommunisten gerade eine Art Wiederauferstehung. Insgesamt jedoch fährt die Ernte der ökonomisch Verunsicherten klar die Rechte ein, nicht die Linke. Warum?

Wolf: Das ist jedenfalls kein neues Phänomen; historisch verlief es häufig so in derartigen Situationen. Im Deutschland der 1930er-Jahre beispielsweise – in der großen Depression, als die Arbeitslosenrate 25 Prozent betrug – wählten die Menschen nicht die Kommunisten, sondern die nationalistische Rechte. Aber zurück in die Gegenwart: Der mangelnde Erfolg der Linken liegt auch daran, dass sie sich gleich dreifach diskreditiert hat. Zunächst machte es der Fall des Kommunismus schwierig, noch daran zu glauben, dass extrem linke Lösungen funktionieren – sie waren ja soeben gescheitert. Zweitens hat sich Mitte-links vielerorts in eine technokratische Linke verwandelt, die sich von ihren Wurzeln in den Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen weit entfernt hat. Und dann gibt es einen letzten Aspekt, der die Linke verwundbar vonseiten der Rechten macht: Mitte-links-Parteien waren stets diejenigen, die immer am wenigsten besorgt über die Integrität des Nationalstaats und am offensten gegenüber Migration waren.

Martin Wolf, "The Crisis of Democratic Capitalism". 29,99 €, 496 Seiten. Penguin Books
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STANDARD: Migration, argumentieren Sie in Ihrem Buch, ist aber nicht das Kernproblem, das die Radikalisierung der Gesellschaft antreibt.

Wolf: Das stimmt, aber sie ist der wichtigste Faktor, der erschwerend hinzukommt. Ich sehe die Migrationsfrage eher als Symptom denn als Ursache der Krise. Wenn man die Historie blickt, sieht man über Jahrhunderte und Jahrtausende, dass Migration soziale Spannungen zwar nicht auslöst, aber verstärkt. Es war schon immer bequem, an kritischen Situationen Ausländern die Schuld zu geben – ob in Form von Zuwanderern oder in Form von unfairen Mitbewerbern auf dem Weltmarkt.

STANDARD: Angenommen, die G7, die sieben wichtigsten Industriestaaten der Erde, würden fragen, was getan werden muss, um die Demokratie zu retten – was würden Sie antworten?

Wolf: Vorweg: Wir schwimmen derzeit ein wenig gegen den Strom, was Lösungen erschwert. Unsere Wirtschaften wachsen nicht schnell, wir haben ein Problem mit Überalterung, dadurch steigt der Druck auf die Staatsfinanzen. Die Bedingungen sind also nicht leicht. Was lässt sich trotzdem tun? Sehr breit gesagt müssen die Menschen ökonomisch das Gefühl bekommen, dass die Gesellschaft ihnen und ihren Kindern genug Chancen bietet und dass diese Chancen einigermaßen fair verteilt sind. Ich denke, man kann hier durchaus Anleihen an der traditionellen alten Mitte-links-Politik nehmen, mit einigen Modifikationen – aber auch an der Politik der rechten Mitte. Die politischen Mitten also, denen noch immer viele Menschen anhängen, müssen gestärkt werden, zum Beispiel durch Wahlrechtsreformen. Wir werden aufgrund des Zustands unserer Gesellschaften überdies mehr von der richtigen Immigration brauchen. Und zuletzt ist die Rolle der Medien entscheidend: Neue Technologien haben die Qualität der Information, auf denen unsere politischen und sozialen Entscheidungen basieren, stark unterminiert – das gilt es zu ändern. (Joseph Gepp, 6.8.2023)