Theater Hora
Regisseurin Helgard Haug (li. o.) und das Hora-Ensemble, bestehend aus (im Uhrzeigersinn): Remo Beuggert, Robin Gilly, Tiziana Pagliaro, Simone Gissler und Simon Stuber.
Mali Lazell, Mara von Kummer

Seit dreißig Jahren gibt es in Zürich das Theater Hora, eine der weltweit renommiertesten Truppen professioneller Theaterschaffender mit geistiger Behinderung. In Theaterkreisen sind die Horas berühmt, weil sie über die Jahre viele Beschränkungen durchbrochen haben und so absolute Pioniere der Bühnenkunst geworden sind. Diese sähe sich selbst zwar gern vielfältiger und inklusiver, allein die Realität hinkt dem Wunsch hinterher. Der Stadttheaterbetrieb ist auf "normalgesund" programmiert.

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Ein wahrer Boost für das von Michael Elber 1993 gegründete Hora-Theater war das Jahr 2013, als die vom französischen Choreografen Jérôme Bel inszenierte Show Disabled Theater durch eine Einladung zum Berliner Theatertreffen geadelt wurde. Nicht nur das. Schauspielerin Julia Häusermann aus dem Hora-Ensemble wurde der Alfred-Kerr-Darstellerpreis zuerkannt. Sie wurde zum Star und hat in weiterer Folge viele Produktionen mitgeprägt. Eine Welttournee von New York bis Macau war die Folge – und eine fundierte Debatte über künstlerische Wertschöpfung und Inklusion, die sich bis heute fortsetzt.

Dank der seit 2009 bestehenden hauseigenen Ausbildungsstätte haben sich die Horas einen nicht mehr in Zweifel gezogenen Status als professionelles Ensemble gesichert, kooperieren mit renommierten Theatergruppen oder -häusern wie Henrike Iglesias oder zuletzt den Münchner Kammerspielen (Splatter-Tanz Horror und andere Sachen) und arbeiten mit den angesagtesten Regiekräften zusammen, darunter Milo Rau, Nicolas Stemann oder jetzt im Rahmen der Salzburger Festspiele Helgard Haug.

Brecht in neuer Fassung

Regisseurin Haug, Gründungsmitglied der Künstlergruppe Rimini Protokoll, erarbeitet mit Hora derzeit eine eigene Fassung von Bertolt Brechts Der kaukasische Kreidekreis – abgesegnet von den für absolute Texttreue berüchtigten Brecht-Erben. Premiere ist am Samstag, 12. August, in der Szene Salzburg.

Das Stück verhandelt die Frage nach der rechtmäßigen Mutterschaft. Ist die leibliche Mutter die geeignetere, auch wenn sie sich weder für den Sohn noch das Kindeswohl interessiert? Oder doch die Pflegemutter, die, gänzlich unverwandt, längst die soziale Rolle der Fürsorgenden übernommen hat? Haug und das Ensemble setzen hier mit ihrer Theaterarbeit an und geben die Frage weiter, unter anderem an das Kind selbst. Generell ist die Hora-Bühne eben kein Platz, auf dem Textbotschaften von Autorinnen und Autoren einfach nachspielend verkündet werden. Die Gruppe dreht Thesen weiter bzw. verknüpft sie mit eigenen, oft unterrepräsentierten Anliegen.

TheaterHORA

Hora gelingt immer eine Blickverschiebung. Denn die seit der Spielzeit 2020/21 von Yanna Rüger und Stephan Stock künstlerisch geleitete Gruppe hebelt jedes Mal aufs Neue eine auf normativen Werten errichtete Welt aus. Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich jenseits hegemonialer Normen ausdrücken, eröffnen Stoffen gänzlich andere Reflexionsebenen und vermögen damit sogar, Aussagen zu verschieben.

Das Theater ist zum Glotzen da, das ist seit Jahrtausenden die Abmachung. Genau so auch beim Theater Hora, das aber mit Verve den Blick ins Parkett zurückspielt und wider Sehgewohnheiten eine Überraschung nach der anderen liefert. Da kann es sich niemand in seiner Betrachterposition bequem machen, aktives Zuschauen wird herausgefordert. "Schauen allein gilt nicht!", sagte jüngst nach einer Vorstellung ein Hora-Schauspieler an herumstehendes Publikum gerichtet. Erst Anfang Juni arbeitete die Schweizer Truppe in Österreich, im Kulturzentrum Griessner Stadl im steirischen Murtal, keine kleine Sensation. Mit Spielerinnen und Spielern vor Ort hatten sie in der Regie von Hora-Mitglied Remo Beuggert (in Salzburg als Schauspieler im Einsatz) ihr Kaurismäki-Filmremake Kontaktkiller neu aufgesetzt. DER STANDARD berichtete.

Autonom, enthusiastisch

"Achte darauf, dass die Wassermenge die Beckengröße nicht übersteigt", heißt es in Punkt 14 des 15 Leitsätze umfassenden Manifests der Theatergruppe. Diese vernünftige Empfehlung soll aber nicht weismachen, dass Hora ein eingehegtes Ensemble ist, im Gegenteil. Kaum eine Schauspieltruppe scheint so autonom und enthusiastisch aufzutreten wie sie. Das macht ihre Shows dementsprechend mitreißend und unkonventionell. (Margarete Affenzeller, 8.8.2023)