Im Gastblog betrachtet der Geologe und Bibliothekar Thomas Hofmann Ergebnisse und Erlebnisse der Exkursionen des Geologenkongresses 1903 in Wien.

Der neunte Internationale Geologenkongress lockte im August 1903 ein bunt gemischtes Fachpublikum (393 Teilnehmer, davon 23 Frauen) nach Wien, wo an der Universität Wien von 20. bis 27. August die Fachvorträge stattfanden. Auf breites Interesse stieß das breit gefächerte Angebot der 21 Exkursionen. Es reichte von Tagesausflügen in der Umgebung Wiens bis zu mehrtägigen Exkursionen von den Alpen über die Tatra und Bosnien bis nach Lemberg und Süddalmatien. Dabei kam es zu einer revolutionären Erkenntnis, nämlich der Entdeckung der größten geologischen Struktur der Ostalpen, dem Tauernfenster. Somit war belegt, dass die Alpen durch Überschiebungen von Gesteinseinheiten entstanden waren. Und zu alledem gab es für die Gäste eindrucksvolle Beweise heimischer Gastfreundschaft.

Geologenkongress 1903 Exkursionsrouten
Die Exkursionsziele beim Geologenkongress 1903 reichten von den Dolomiten bis nach Lemberg.
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Schwarz-Weiß Gruppenfoto
Die Gelehrten in der Universität Wien im Jahr 1903.
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Ehe der französische Geologe Pierre Termier (1859–1930) den Kongress in Wien besuchte, machte er im Juli 1903 eine Exkursion im Tiroler Teil der Tauern mit. Unter der Führung des Mineralogen Friedrich Becke (1855–1931) nahm er an der achttägigen Exkursion in den Ostalpen teil. Zentrales Thema waren die kristallinen Gesteinseinheiten der Hohen Tauern im Bereich des Zillertales, bestehend aus dem Zentralgneis und der Schieferhülle. Die damalige Lehrmeinung war, dass die Kalkphyllite (schiefrige Gesteine, die aus kalkigem Ausgangsgestein unter Druck- und Temperatureinwirkung entstanden sind) der Schieferhülle aus dem Paläozoikum (Erdaltertum) stammen würden. Das machte nach gängiger Lehrmeinung auch Sinn, demnach lagen die ältesten Gestein zuunterst.

Termier, aus den Westalpen kommend, war mit der dortigen Gesteinswelt vertraut. Er kannte die "Schistes lustrés" (deutsch: Glanzschiefer) aus Frankreich und die Bündnerschiefer der Schweiz, beide aus dem Erdmittelalter (Mesozoikum). Diese Schiefergesteine, wie auch die Kalkphyllite, gehören zur Gruppe der metamorphen Gesteine (Umwandlungsgesteine oder Metamorphite). Sie entstehen im Zuge von Gebirgsbildungsprozessen unter Druck- und Temperatureinwirkung. Nachdem man mit bloßen Auge nicht erkennen kann, wann diese Gesteinsumwandlung (Metamorphose) stattgefunden hat, war das Alter der Gesteine damals nicht feststellbar.

Nach der Exkursion im Zillertal parallelisierte Termier in einer gewagten These die ihm bekannten "schistes lustres" der Westalpen mit den Kalkphylliten der Hohen Tauern. Anders gesagt: Er sah in den bislang paläozoisch geglaubten Kalkphylliten der Hohen Tauern ein östliches Äquivalent, der ihm aus den Westen bekannten Gesteinsserien. Er korrelierte sie als Verlängerung der mesozoischen "Schistes lustrés" über die dazwischenliegenden Bündnerschiefer der Schweiz, deren Alter man als mesozoisch annahm. Somit war es für den aus dem Westen kommenden Termier logisch, dass auch die Schiefergesteine der Alpen das gleiche Alter haben würden.

Damit postulierte Termier das Alter der Kalkphyllite in den Tauern neu: Statt von Erdaltertum sprach er vom Erdmittelalter. Die klassische Lehrmeinung der Geologie ("Lagerungsgesetz"), dass alte Gesteine unten liegen und darüber jüngere folgen, galt in den Tauern nicht mehr. Laut Termiers These lagen nun in den Ostalpen ältere Gesteine über jüngeren. Das war eine Umkehrung des geologischen Weltbildes. Mit anderen Worten: Eine neue Struktur, das Tauernfenster, war entdeckt! Diese 120 km lange Struktur reicht vom Brenner (Tirol) im Westen bis in die Katschbergregion (Salzburg / Kärnten) im Osten. Die Nord-Süderstreckung variiert zwischen 40 und 60 km.

Als die Deckenlehre der Westalpen die Ostalpen erreichte

Termier gehörte mit dem Schweizer Geologen Maurice Lugeon (1870–1953) zu den Protagonisten der Deckenlehre. Demnach bestehen Gebirge aus einer Reihe von übereinander geschobenen Gesteinseinheiten (Decken). Diese damals noch junge Theorie fand in den Westalpen Akzeptanz und Anwendung. Mit Termiers Schichtenkorrelation hatte sie auch die Ostalpen erreicht. Da sich laut Termiers These die kristallinen Schiefergesteine der Westalpen im Untergrund bis in die Ostalpen fortsetzen, war die Entstehung der Ostalpen neu zu schreiben. Die Gesteinsdecken der Ostalpen wurden – so Termier – über die der Westalpen geschoben. Sichtbar sind die westalpinen Gesteine in sogenannten tektonischen Fenstern.

Zum Bildung der Fenster kam es wie folgt: Im Zuge der alpinen Gebirgsbildung, die im Sinne der Plattentektonik der Kollision der Afrikanischen und Eurasischen Kontinentalplatte entspricht, kam es zunächst zu riesigen Überschiebungen. Gesteinsserien, die ursprünglich nebeneinander lagen, wurden durch tektonische Kräfte übereinander geschoben. Im Anschluss daran kam es zur Heraushebung und Aufwölbung des Alpenkörpers, der als Schichtenstapel entstanden war und in seinem Bau damit an eine Zwiebel erinnern mag. Die darauffolgende Erosion setzt bei den höchsten Partien an. So kamen hier die darunterliegenden Gesteinsserien - gleichsam wie in einem Fenster – zum Vorschein. An den Seiten blieben die älteren Gesteinsserien noch erhalten. Ganz so, als würde man bei einer Zwiebel ein Stück an der Seite wegschneiden.

Im Bereich der Hohen Tauern wurde Termier zum Entdecker des Tauernfensters. Auch im Engadin (Engadiner Fenster) oder weit im Osten, im Raum Rechnitz (Rechnitzer Fenster), sind jene aus den Westalpen bekannten Schiefergesteine des Erdmittelalters in tektonischen Fenstern zu sehen. Umrahmt werden sie von teils älteren Gesteinen der Ostalpen, die als Decken darübergeschoben wurden. In der Fachliteratur werden diese westalpinen Gesteinsvorkommen als Penninikum, als Ablagerungen des einstigen Penninischen Ozeans (Jura/Erdmittelalter), bezeichnet.

Tauernfenster Termier und Suess
Termiers Entdeckung des Tauernfensters von 1903 (oben) wurde von Eduard Suess 1909 (unten) aufgegriffen und akzeptiert.
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Termiers veni, vidi vici, das in Details noch kontroversiell diskutiert wurde, war nicht leicht zu verdauen! Doch Größen wie Eduard Suess (1831–1914), dessen Opus Magnum, das dreibändige "Antlitz der Erde", damals im Endstadium war, ging mit Termier d'accord. Suess schrieb 1909 in Band 3 (Teil 2) auf Seite 121: "Die Meinung wurde ausgesprochen, dass die ganze 480 Kilom. lange Zone der östlichen Kalkalpen auf fremder Unterlage schwebe."

"Lachen und Scherzen und fröhliche Mienen"

Freilich hatten nicht alle Exkursionen so weitreichende Folgen für die Wissenschaft. Die meisten Treffen der Gelehrten dienten dem Wissensaustausch, dem Kennenlernen neuer Gesteins- und Fossilvorkommen. Da die Unterhaltung nie zu kurz, blieben auch sie unvergessen. So startete am 21. August 1903 um sieben Uhr morgens am Südbahnhof eine Geologenfahrt mit dem Ziel Atzgersdorf, Baden und Vöslau an der Thermenlinie südlich Wien. Der Zweck der wissenschaftlichen Exkursion war ein doppelter. Neben "der Forschung und Belehrung" der Ablagerungen des mittleren Miozäns (16,0 bis 11,6 Millionen Jahre) widmete man sich auch "dem Naturgenusse in der Umgebung Wiens und der geselligen Unterhaltung". Theodor Fuchs und Franz X. Schaffer, die beiden Exkursionsführer vom Naturhistorischen Museum, bemühten sich die "105 Herren und Damen meist Kongreßmitglieder aus der Fremde" nicht zu enttäuschen. Dies dürfte auch gelungen sein, denn "während der ganzen Partie spürte man wenig vom Ernst der Wissenschaft, es gab nur Lachen und Scherzen und fröhliche Mienen; alle Professoren waren heiter gelaunt und guter Dinge." ("Neue Freie Presse", 22. August 1903). Die Gesellschaft war bunt gemischt.

Geologenkongress 1903 Marie Jerosch und Pater Comas
Interessiert an der Geologie Badens: Marie Jerosch aus Zürich und Pater Jaime Almera Comas aus Barcelona.
Wikipedia/ Gemeinfrei

Die "Neue Freie Presse" beschrieb die Teilnehmenden folgendermaßen: Hier der "echte deutsche Professorentypus (…) in abenteuerlicher touristischer Ausrüstung". Da "junge elegante Engländer, Spanier und Russen". Letztere fielen durch ihre hohen Stiefel auf. Auch der Klerus war vertreten, Pater Jaime Almera Comas aus Barcelona trug eine Soutane. Töchter und Gattinnen scheuten keine Beschwerden, um "den Vater oder Gatten bei seinen wissenschaftlichen Untersuchungen zu unterstützen". Besonders interessiert zeigte sich Marie Jerosch (Assistentin bei Professor Albert Heim) aus Zürich. "Das hübsche, junge Mädchen klopfte mit ihrem Geologenhammer an dem Gestein herum und kletterte durch dick und dünn mit einem Eifer mit, daß es eine Freude war." Trotz Hitze war bei den 15 Millionen Jahre alten Leithakalken im Rauchstallbrunngraben die Begeisterung der Gelehrten ungebrochen: "Sie saßen, kauerten und ritten auf dem Gestein, daß man glaubte, eine Schicht von Steinklopfern bei der mühevollen Taglohnarbeit zu sehen." Freilich durfte auch die Weinkellerei der Firma Schlumberger nicht fehlen. Der Chef persönlich, Robert Schlumberger von Goldeck (1850–1939), unterstrich die Abhängigkeit des Weins vom Bodentyp und stellte damit eine Verbindung zu den durstigen Geologen her. Nach einem Dinner im Badener Kursalon ging es um 9.30 Uhr wieder zurück nach Wien. Als Andenken gab es ein Album mit Ansichten Badens.

Kursalon in Baden
Die Geologenexkursion fand am 21. August 1903 mit einem Dinner im Badener Kursalon einen feierlichen Abschluss.
Stadtarchiv Baden

Eggenburger Exkursion

Am 23. August standen zwei Exkursionen am Programm, beide führten ins nördliche Niederösterreich, eine in das Kamptal, die andere nach Eggenburg. Neben Fuchs und Schaffer führte der junge Othenio Abel (k.k. geologische Reichsanstalt), der durch seine antisemitischen Aktivitäten negative Schlagzeilen machte, die rund 50 Teilnehmenden. Unter ihnen war wieder Pater Jaime Almera Comas, ferner Charles Depéret aus Lyon und Carl Christian Gottsche samt Gemahlin aus Hamburg – sie war die einzige weibliche Teilnehmerin der Exkursion. Ziel war neben den rund 20,5 bis 17,5 Millionen Jahren alten Ablagerungen rund um Eggenburg (Unteres Miozän) das Krahuletzmuseum, dessen Name schon damals in der Fachwelt ein Begriff war.

Nach der Abfahrt um 6.50 Uhr am Franz-Josefs-Bahnhof hatten die Gelehrten um 9.15 Uhr Eggenburg erreicht. Ehe es in die Stadt ging, von deren Dächern Fahnen wehten, widmeten sich die Geologen – gleich beim Bahnhof – mehr als zwei Stunden den "sogenannten Eggenburger Schichten von lichtgrauem, grobem Quarzsand, welche dickschalige Austern" enthalten. Dann kam es, wie es im Weinviertel kommen musste, die obligatorische Einladung in einen Weinkeller. Bürgermeister Leopold Apfelthaler lud in seinen Keller, kredenzte Röschitzer Wein und überzeugte damit. "Die Franzosen gaben sogar ihr Urteil dahin ab, daß der Wein dem Rebensaft der Bourgogne an Wohlgeschmack nahe komme." ("Neue Freie Presse", 24. August 1903).

Geologenkongress 1903 Krahuletzmuseum Speisekarte und Gästebuch
Nach opulenter Speisenfolge trug sich am 23. August 1903 das Who's who der Gelehrten ins Gästebuch des Krahuletzmuseums ein.
Krahuletzmuseum

Beim Krahuletzmuseum erwartete Johann Krahuletz (1848–1928), Museumsgründer, international vernetzter Sammler und Heimatforscher in Personalunion, die Wissenschafter. Nach dessen Besuch waren sich alle einig, dass das Museum dank der 40-jährigen Sammeltätigkeit von Krahuletz eine Fundgrube ersten Ranges für Geologen und Paläontologen war. Den Beweis hatte Depéret geliefert. Er war schon in früheren Jahren nach Eggenburg gekommen, hatte die fossilen Wirbeltiere des Raumes Eggenburg bearbeitet und die Reste einer Seekuh, Krahuletz zur Ehre, als "Metaxytherium krahuletzi" benannt. Mittags speiste man beim Goldenen Löwen. Nachmittags ging's über eine "staubige, schattenlose Straße" nach Gauderndorf. Um 19.06 Uhr trat man die Heimfahrt an.

Der vergebliche Versuch eines Wiener Revivals

Zu Beginn der 1990er-Jahre formierte sich in der heimischen Geologenschaft der Wille, den 32. Internationalen Geologenkongress (IGC) im Jahr 2004 – in Hinblick auf das 100-Jahr-Jubiläum des Durchbruchs der Deckenlehre – abermals nach Wien zu holen. Die Kandidatur Österreichs wurde im Jahr 1992 beim 29. IGC in Kyoto in Japan offiziell bekanntgemacht und fand zunächst breite Unterstützung. Doch 1996 trat auch Italien auf den Plan und kandidierte ebenfalls. Beim 31. IGC in Rio de Janeiro (6. bis 17. August 2000) trat die 39-köpfige österreichische Delegation unter dem Motto "Where science meets history" an. Man warb mit einer aufblasbaren, innen begehbaren Kugel mit Mozart (Assoziation Mozartkugel) auf der einen und der Welt vor 250 Millionen Jahren auf der anderen Seite. Dazu kredenzte man Gumpoldskirchner Wein, Kaffee und Mozartkugeln.

Werbeplakat
Werbeplakat Österreichs für die Austragung des 32. Internationalen Geologenkongresses 2004 in Wien.
Archiv GeoSphere Austria

Bei der allesentscheidenden Abstimmung überzeugte Florenz mit dem Motto "Renaissance of Geology" und bekam mit 92 Stimmen den Zuschlag. Für Österreich votierten nur 56 Personen. Ungeachtet dessen besuchten im August 2004 zahlreiche heimische Geologen und Geologinnen den Kongress in Florenz und unterstützten die Italiener bei Exkursionsführungen in den Alpen. (Thomas Hofmann, 18.8.2023)