Wenn sich die Präsidenten des westafrikanischen Staatesbundes Ecowas am Donnerstag zu einem Sondergipfel in der nigerianischen Hauptstadt Abuja treffen, steht weit mehr auf dem Spiel, als den Staatschefs lieb sein kann. Es geht um die Demokratie: ob die Putschisten in Niger mit ihrem Coup im mittlerweile vierten westafrikanischen Staat (nach Mali, Burkina-Faso und Guinea) erfolgreich sein werden. Und es geht auch um den Frieden: ob Ecowas die Junta mit Waffengewalt zur Aufgabe zwingen will. Außerdem geht es um den Umgang mit dem "Terror": ob man islamistischen Extremisten nur mit martialischen Mitteln oder auch mit Gesprächsangeboten begegnet. Und es geht schließlich um Einflusszonen ausländischer Mächte: ob die Ex-Kolonialmacht Frankreich einen weiteren Staat verliert und Wladimir Putin einen dazugewinnt.

Hat sich Ecowas nicht schon für eine militärische Intervention entschieden?

Das soll "das letzte Mittel" sein, heißt es inzwischen. Der derzeitige Vorsitzende des Staatenbundes, Nigerias Präsident Bola Tinubu, bekommt inzwischen Gegenwind, er hatte am heftigsten fürs Eingreifen plädiert. Nigers Nachbarstaaten Algerien und der Tschad haben sich gegen eine gewalttätige Lösung gestellt, während andere bezweifeln, dass sich die bankrotte regionale Supermacht Nigeria ein solches "Abenteuer" gar leisten kann. Und dass ihre Militärs, die schon mit den Islamisten, Separatisten und Banditen im eigenen Land nicht fertig werden, dazu überhaupt in der Lage sind. Schließlich will auch Nigerias Senat einer Intervention nicht zustimmen: Das wäre das Aus für Tinubus Ansinnen.

Wie könnte die Junta sonst zum Aufgeben gebracht werden?

Einerseits natürlich durch Verhandlungen: Doch das haben Vertreter von Ecowas, der Afrikanischen Union, der Vereinten Nationen sowie der US-Regierung bereits vergeblich versucht. Man kann sie auch durch Sanktionen zwingen: Nigeria stellte bereits seine Stromlieferungen ein, die 70 Prozent des nigrischen Bedarfs abdecken. Außerdem wurde die Grenze geschlossen und damit mehr als 90 Prozent aller nigrischen Ex- und Importe gestoppt. Schließlich hat sowohl die westafrikanische Zentralbank wie der Währungsfonds IWF den Finanzfluss unterbrochen.

Die Folgen bekommt die Bevölkerung bereits zu spüren: Die Preise steigen deutlich an, die stromlose Wirtschaft kommt zum Erliegen. Das Problem dieser Strategie wurde bereits in Mali deutlich: Der Zorn der unter den Sanktionen leidenden Bevölkerung richtet sich auf die Nachbarstaaten statt auf die Militärregierung – der Staatenbund, der eigentlich helfen will, wird zum Feind.

Bislang scheint die Junta vom Aufgeben jedoch weit entfernt, erst in der Nacht auf Donnerstag wurde eine Liste von 21 Ministern vorgestellt, die die neue Regierung bilden sollen.

Was hält die nigrische Bevölkerung von dem Putsch?

Dessen Initiatoren waren einzelne hohe Offiziere, von denen sich Präsident Mohamed Bazoum trennen wollte oder bereits getrennt hatte. Die ersten Straßenproteste waren denn auch gegen die Junta gerichtet: Sie wurden allerdings von Soldaten umgehend erstickt. Später gingen in der Hauptstadt Niamey immer mehr Menschen zur Unterstützung der Junta auf die Straße: Ob das echt ist oder ob es sich um organisierten Jubel handelt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls wissen die Offiziere genau, wie sie die Stimmung in ihre Richtung manipulieren können: indem sie gegen ausländische Einflussnahme hetzen, sei es seitens Ecowas oder der Franzosen.

Soldaten in einem Stadion im Niger.
Unterstützungsveranstaltung für die Putschisten in Niamey. Ob die Begeisterung echt oder die Menge bestellt ist, ist nicht klar.
REUTERS/STRINGER

Allerdings gab es am Mittwoch erstmals auch wieder Anzeichen für heimischen Widerstand. Wie mehrere Medien berichteten, hat der einstige Rebellenführer Rhissa Ag Boula eine Bewegung gegen die Junta ins Leben gerufen, die sich "Widerstandsrat für die Republik" nennt. Diese strebt nach eigenen Angaben eine Wiedereinsetzung Bazoums an. Wie stark ihre Anhängerschaft ist, ist allerdings schwer abzuschätzen. Ag Boula hatten in den 1990er- und 2000er-Jahren bei Kämpfen aufseiten der Tuareg-Volksgruppe im Norden des Landes eine Rolle gespielt. Die Partei des gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum rief zudem am Mittwoch zur Befreiung des Staatsoberhauptes auf. Das ganze Land müsse mobilisiert werden, hieß es in einer Erklärung der Partei PNDS-Tarayya.

Video: Sorge um Gesundheit des gestürzten nigerianischen Präsidenten Bazoum
AFP

Welche Rolle spielt die ehemalige Kolonialmacht noch?

Wie gründlich es sich Frankreich in Afrika verscherzt hat, wird immer deutlicher. Im Gegensatz zu Großbritannien hielt Paris nach der Kolonialzeit an seinem Einfluss im frankophonen Teil des Kontinents fest: Die Währung war an den Franc geknüpft, die Eliten der jungen Staaten hielten enge Beziehungen zu Frankreich aufrecht. Bei der Bevölkerung kam das nicht gut an: Die Eliten galten als korrupt, von ihren engen Verbindungen zu Europa profitierten nur sie. In dieser Atmosphäre können sich China und Russland heute als selbstlose Partner präsentieren, auch wenn das polarisierte Bild so natürlich nicht stimmt.

Werden französische und US-Truppen im Niger bleiben können?

Falls die Junta ihre Macht zementieren kann, auf keinen Fall. Sie hat bereits die Sicherheitszusammenarbeit mit Frankreich aufgekündigt: Bis die rund 1.500 französischen Soldaten abziehen, ist es nur eine Frage der Zeit. Auch die US-Streitkräfte werden ihre beiden Drohnen-Stützpunkte aufgeben müssen, was ihnen nicht nur finanziell, sondern auch strategisch wehtun wird. Von Niger aus suchte der Westen seinen Feldzug gegen die islamistischen Extremisten zu führen, die einen Großteil der Sahelzone unsicher machen. Dass es Frankreich nicht geschafft hat, die Jihadisten militärisch auszuschalten, trug ebenfalls zum Reputationsverlust der Ex-Kolonialmacht bei. Das wird allerdings auch der nigrischen Armee nicht gelingen, schon gar nicht, wenn sie – wie zu befürchten ist – die russische Wagner-Truppe zu Hilfe ruft. Mali hat gezeigt, dass die brutalen Söldner das Problem nur verschlimmern. Die Extremisten sind nicht militärisch zu besiegen: Man muss die soziale, politische und religiöse Auseinandersetzung mit ihnen suchen. Präsident Bazoum wusste das und hat mit seinem Konzept der Kontaktaufnahme wichtige Erfolge erzielt. Die werden nun zunichtegemacht.

Werden sich die Entwicklungen in Niger auch auf die Migration nach Europa auswirken?

Das Land ist einer der wichtigsten Transitstaaten für Migrierende aus West- und Zentralafrika. Mit Bazoum, der vor seiner Präsidentschaft Innenminister war, hatte die EU durchaus umstrittene Abmachungen getroffen, wie Migranten schon im Niger zur Rückkehr nach Hause veranlasst werden könnten. Fällt das Land unter russischen Einfluss, und wird es der Bevölkerung (was zu befürchten ist) in einer Militärdiktatur schlechter gehen, ist mit einer deutlichen Zunahme von Flüchtenden zu rechnen. (Johannes Dieterich, red, 10.8.2023)