Sabrina Filzmoser:
Sabrina Filzmoser am K2.
Foto: Filzmoser

Sabrina Filzmoser radelte von Islamabad zum K2 und wollte den zweithöchsten Berg der Welt ohne künstlichen Sauerstoff bezwingen. Auch die zweifache Judo-Europameisterin war am 27. Juli vor Ort, als Kristin Harila den Rekord der schnellsten Besteigung aller 14 Achttausender vollendete und der Hochträger Mohammad Hassan starb – laut gestern vom STANDARD publizierten Aussagen mehrerer Augenzeugen, weil dem noch lebenden Pakistani nicht geholfen wurde und zahlreiche Bergsteiger stattdessen zum Gipfel weitermarschierten.

STANDARD: Was war da auf dem K2 los?

Filzmoser: Vielen, die bergunerfahren sind, kann man gar nicht vorwerfen, was dort passiert, weil sie nicht reagieren können. Die sind völlig geblendet vom Gipfel und davon, was sie investiert haben und dafür zahlen. Sie haben wenig Kontakt zu den Einheimischen und erkennen nicht, was da rundherum passiert. Die Einheimischen sind im blinden Glauben an das große Geld dabei. Mohammad Hassan war das erste Mal auf so einem hohen Berg, ohne ausreichende Ausrüstung. Er wollte einfach beim Rope-Fixing-Team dabei sein, weil er da mehr verdient hat. Er war sehr jung, hatte drei Kinder daheim und eine kranke Mutter, er wollte einfach Geld verdienen. Und wenn dann etwas passiert, ist sich keiner einer Schuld bewusst.

STANDARD: Manche sagen, Mohammad Hassans Leben hätte gerettet werden können.

Filzmoser: Viele haben Aufnahmen gemacht, wie sie über den Körper von Hassan drübersteigen. Nur ein Mann hat eine Zeitlang versucht, ihm zu helfen. Ich vermute, er ist gestorben, weil sein Sauerstoffgerät beschädigt war. Hätte ihm jemand seinen Sauerstoff geben können, hätte er auch gerettet werden können. Aber es hat überhaupt keine Rettungskette gegeben. Die Leute in der Schlange haben zwei oder drei Stunden gewartet, erst dann sind sie über ihn drübergestiegen, weil sie geglaubt haben, er ist tot. Aber ich habe von mehreren Seiten gehört, dass er noch gelebt hat. Der hat noch fünf, sechs Stunden gelebt, das ist für mich das Arge.

STANDARD: Sie sind in Camp drei geblieben und waren so einige Hundert Höhenmeter unter der Unfallstelle.

Filzmoser: Bei solchen Bedingungen gehe ich nicht einmal auf den Dachstein. In der Nacht habe ich die anderen weggehen gehört, da hat es kurz nicht geschneit. Und dann höre ich die erste Lawine, und ich wusste, dass ich recht gehabt habe. Ein, zwei Stunden später kam die nächste. Meinen zwei Hochträgern, die dabei waren, wurde sogar der Sauerstoff gestohlen. Für sie war es unmöglich, mit mir mitzugehen. Da fiel mir die Entscheidung zum Abstieg leicht. In der Früh kamen schon die Ersten, die umgedreht haben. Sie haben alle gewusst, dass oben einer einen Unfall hatte, und waren nicht sicher, ob er noch lebt. Später haben dann viele gesagt, wie arg das ist, dass man über Leichen steigen musste. Aber Willi Steindl oder Philip Flämig, der Drohnenvideos von der Situation gefilmt hat, haben die Situation völlig anders gesehen (laut ihren Berichten und Aufnahmen lebte Hassan noch länger; der STANDARD; Anm.).

STANDARD: Denkt man gerade, weil so viele da oben waren: Da hilft ja eh ein anderer?

Filzmoser: Ja, die machen sich selbst keine Vorwürfe, weil jeder das Gleiche macht. Die sind wie eine Schafherde. Jeder denkt, dass es so ist, wenn andere sagen, der sei nicht zu retten gewesen. Es würde auch keiner auf die Idee kommen, ihm die eigene Sauerstoffflasche zu geben. Die kommen selbst nur ein paar Minuten ohne Sauerstoff aus. Das können nur Sherpas. Die machen das ja am Everest fast täglich, ohne dass man es erfährt. Das Problem war, dass es in Pakistan passiert ist.

STANDARD: Es waren ja auch Sherpas oben.

Filzmoser: Die nepalesischen Bergführer, die dort sind, sind vom kommerziellen Anbieter aus für einen Kunden verantwortlich und haben genug damit zu tun. Viele der Klienten tragen nur ihre Sauerstoffflasche, den Rest macht der Sherpa. Die sind fast schon überfordert damit, dass ihr Kunde überlebt. Bei diesen Bedingungen war es schon für die Sherpas unmenschlich. Aber die Sherpas, die ich kenne, würden nicht umdrehen, die kriegen ja auch einen Gipfelbonus. Die tragen die Klienten lieber selbst runter, weil sie von dem Geld ihre Familie ernähren.

Der K2 gilt als der gefährlichste Achttausender. Sabrina Filzmoser wollte ihn ohne künstlichen Sauerstoff bezwingen.
AFP/JOE STENSON

STANDARD: Sie kennen ja die Verhältnisse, aus denen viele kommen. Verändert das den Blick?

Filzmoser: Viele Jahre auch in Nepal und das Reden und Aufarbeiten im Basecamp und auf dem Weg zurück haben mir geholfen, jeden Blickwinkel einzuschätzen und annähernd nachzuvollziehen. Aber es gibt kein Argument, dass man da nicht anders handeln hätte können. In meinen Augen: Wenn du erste Hilfe leisten musst, tust du es. Und wenn du nur Hilfe rufst. Das lernen die hier nicht, das wird ihnen auch nicht gesagt.

STANDARD: Die erfahrenen Sherpas haben auch gesagt, dass Hassan nicht ausreichend ausgerüstet war. Ist der finanzielle Druck zu groß?

Filzmoser: Absolut, jeder will irgendwann Kunden führen und auf den K2, weil er da das meiste Geld kriegt. Die erfolgreichen pakistanischen Bergsteiger inspirieren die Jungen, und das geht dann auch sehr schnell, bis sie zum K2 kommen.

STANDARD: War Hassan mit, um das Team, das die Fixseile legt, zu unterstützen?

Filzmoser: Der war so unerfahren, dass er da oben kein Seil spannen oder eine Eisschraube setzen konnte. Der war dazu da, das Seil zu tragen und zu assistieren. Er war mit der Situation da oben sowieso überfordert. Er hat da oben auch zum ersten Mal eine Sauerstoffflasche verwendet, das ist nicht so einfach. Aber du hörst immer nur: "No problem, no problem." Natürlich macht er Fehler. Aber wenn er es rauf und runter schafft, zahlt er fünf Jahre lang die Schule seines Kindes.

STANDARD: Sind nicht die Veranstalter dafür verantwortlich, dass ihre Träger ausreichend ausgebildet und ausgerüstet sind?

Filzmoser: Die Träger kriegen ein gewisses Budget für ihr Equipment, das geht aber für Dinge wie das Schulgeld der Kinder drauf. Die gehen im Schneetreiben mit Sandalen ins Basislager. Gibst du ihnen Socken, verkaufen sie die. Die lokalen Unternehmen versichern ihre Träger anders als in Nepal nicht einmal.

STANDARD: Hatten Sie Kontakt mit Hassan?

Filzmoser: Wir haben uns nur jeden Tag gegrüßt. Meine Hochträger sind aus der gleichen Gegend gekommen.

STANDARD: Wie war danach die Stimmung im Basislager?

Filzmoser: Die einen haben mit Gipfelkuchen gefeiert, die anderen haben das Feiern abgelehnt, weil sie wussten, was passiert war. Für mich war es auch so, weil Hassan ein Zeltnachbar war. Seine besten Freunde waren da und haben Rotz und Wasser geweint.

STANDARD: Ist die Anonymität der Menschen ein Problem?

Filzmoser: Ich habe mir die Frage gestellt, was passiert wäre, wenn einer von Harilas Sherpas oder sie selbst ins Seil gestürzt wäre. Dann wäre alles vollkommen anders gelaufen.

STANDARD: Ist es manchen Kunden egal, wer ihnen da raufhilft?

Filzmoser: Die Kunden haben schon eine intensive Bindung mit den Sherpas, weil von denen das Überleben abhängt. An das Rope-Fixing-Team, das extremes Risiko eingeht, denkt keiner.

STANDARD: Fehlt am Berg generell der Respekt?

Filzmoser: Nein, ich erlebe immer wieder, wie viel Respekt und Wertschätzung es am Berg gibt. Aber 90 Prozent der normalen Klienten kennen diese Bergsteigerethik nicht. Die kommen nicht aus dem Bergsteigen, die sind nicht mit dem Berg aufgewachsen. Die sitzen irgendwo in China an einem Schreibtisch und denken sich: Letztes Jahr war ich auf dem Everest, jetzt probieren wir einmal den K2. Das ist der gefährlichste Berg der Welt, aber wenn ich da einen Vertrag unterzeichne, dann bringen die mich schon rauf.

STANDARD: Wollen Sie noch etwas loswerden?

Filzmoser: Wenn du da unten im Basislager ankommst, alle Finger und Zehen sind in Ordnung – du kannst das nur extrem wertschätzen, respektieren und voller Demut da wieder raustrekken. Und jeden Tag merken: Wow, hast du ein Glück, wo du aufgewachsen bist, wie du versorgt bist, wie du sozial abgesichert bist, das ist einfach nur pures Glück. (INTERVIEW: Martin Schauhuber, 9.8.2023)